An der Schwelle in ein neues Leben

Gestern vor vier Monaten, heute vor 125 Tagen haben wir einen Laster und den Panda mit allem vollgestopft, was noch übrig war, und sind 450 Kilometer in den Norden gefahren. Hier am Meer ist so einiges anders als im Pott. Türschwellen zum Beispiel. Ich wohne nun in einer Altbauwohnung, die alles hat, was ich mir von einer Wohnung immer gewünscht habe. Sogar frisch geschliffene Holzdielen. Nur am Strand oder auf einer Wiese barfuß laufen ist noch flauschiger.

Unter jeder Tür ist eine kleine Stufe montiert. Die vom Flur ins Bad ist mit neun Zentimetern ein Stück höher als die anderen. Alle meine bisherigen Wohnungen waren barrierefrei, so dass ich nachts ohne Licht und Hirn einzuschalten Richtung Klo schlurfen konnte. In einer der ersten Nächte im Norden wurde ich wie gewohnt wach und tapste Richtung Bad. Wie gewohnt setzte ich einen Fuß vor den anderen. Und stieß mit den rechten Zehen so unerwartet und heftig gegen das Hindernis, dass ich nicht die geringste Chance hatte zu reagieren. Ich klatschte durch die angelehnte Tür der Länge nach auf die kalten Badezimmerfliesen. Der Aufprall kam so umfassend und ungebremst, dass ich am liebsten vom Halbschlaf direkt in Ohnmacht gefallen wäre. Diesen Gefallen tat ich mir jedoch nicht, sondern war hellwach und freute mich den Rest der Nacht, mir immerhin nicht das Genick gebrochen zu haben. Vermutlich.

Norddeutscher Initiationsritus

Die oberen Halswirbel und alle anderen Körperteile zwickten noch eine ganze Weile. Zwischenzeitlich arbeitete mein Hirn diesen Vorfall auf, so dass ich einige Nächte später zwar ein weiteres Mal an dieser Schwelle hängenblieb, diesmal aber nur noch ungebremst auf die Knie knallte. Was auch nicht schön war, aber die Richtung stimmte. Mein Hirn und ich waren uns daraufhin einig, auf eine dritte Erfahrung dieser Art verzichten zu können. Eine Zeitlang lief ich wie ein Storch im Salat durch die Wohnung und fürchtete allüberall Hindernisse. Längst ist mein Unterbewusstsein so trainiert, dass ich selbst im Koma die Füße automatisch mindestens 91 Millimeter vom Boden abhöbe. Inzwischen betrachte ich die anfänglich holprige Überwindung dieser heimtückischen Hemmschwelle als eine Art Initiationsritus. Da ich weder gestorben noch zurück ins Ruhrgebiet geflüchtet bin, habe ich hiermit meine Ostseetauglichkeit offiziell unter Beweis gestellt.

Es gibt noch mehr Hindernisse auf dem Weg ans Meer. Hamburg und die A7 zum Beispiel. Da der Panda und ich die Strecke vom Pott an die Küste nun nur noch sehr selten fahren müssen, können wir auch diese Schwelle als erfolgreich überwunden betrachten.
Von meiner Haustür am Ostufer der Förde bis zu meinem Lieblingsplatz am Lieblingsstrand sind es zwanzig Pandaminuten. Vorbei an Lutterbek, dem Bullerbü Schleswig-Holsteins. Nach wie vor ist mir ein Rätsel, warum es dort – langer, breiter Sandstrand, perfekte Bademöglichkeiten, Blick aufs offene Meer, Fischbrötchenbude – meist beinah menschenleer ist. Ein paar WoMos, ein paar gut gelaunte Hunde und jeden Tag Sonnenuntergang frei Haus. Fahrt gern weiter alle zum Timmendorfer Strand. Ich muss nicht alles verstehen.

Regenradar und Windfinder

Wo wir gerade bei Vorlieben und Vorurteilen sind: Ja, es regnet hier auch mal. Nach einer Stunde ist die dicke Wolke meist durch und die Sonne wieder da. Für die aushäusige Freizeitplanung gibt es die App „Regenradar“, mit der sich fast minutengenau prüfen lässt, von wann bis wann es regnen wird. „Windfinder“ und „Schiffsradar“ ergänzen das maritime Equipment. In diesem Moment segelt die „Linnea CB365“ mit fünf Knoten und unbekanntem Ziel gleich am Leuchtturm Friedrichsort vorbei, während der Frachter „A la Marine“ mit 8,6 Knoten auf dem Weg von St. Petersburg nach Antwerpen offenbar eine Pause im Kieler Hafen einlegen will. Doch, das ist wohl interessant.

Auch nicht wahr ist, dass die Menschen hier besonders schweigsam sind. Die Möwen noch weniger. Die Jungvögel haben im Juni und Juli einen solchen Radau gemacht, dass ich mehrmals mitten in der Nacht davon wach wurde. Eine Geräuschkulisse ungefähr wie eine Neugeborenenstation, auf der man hundert Säuglingen gleichzeitig den Schnuller zieht und ein Megafon vor die Schnute hält. Und nein, Tauben gibt es trotzdem. Noch mehr als den Möwengesang liebe ich das tubatiefe Dampfertuten, das ebenfalls durch geschlossene Fenster dringt. Meist tuten sie dreimal lang. Manchmal tutet einer nur einmal, dafür besonders lang. Gestern morste einer fünfmal ganz kurz. Manchmal klingt es als würden die Schiffe miteinander kommunizieren oder anzügliche Witze machen. Es gibt nichts Gutes, außer man tutet. (Für die Wissbegierigen: Das Original ist gar nicht von Seneca, sondern von Erich Kästner.)

Kleiner Knigge für alle Felle

Am Hundestrand ist meist Maggie, Giselas schwarz-weißer Straßenkreuzer, mit von der Partie. Ich liebe diese räudige Rumänin von Herzen. Maggie liebt Fleischwurst, das Meer und Sand. Besser gesagt tiefe Löcher im Sand, in die sie sich hineinlegen kann. So ein Loch will immer zuerst gebuddelt werden. Und der Abraum muss irgendwohin. Das sehe ich als ehemalige Haldenanwohnerin durchaus ein. Es bleibt Maggies Geheimnis, warum sie den Sand immer, wirklich immer in meine Richtung schmeißt. Bevorzugt wenn ich gerade aus dem Wasser komme und nicht schon wieder paniert werden will. Als in der Hundeschule „Der kleine Knigge für alle Felle“ dran war, lag sie wahrscheinlich gerade in einem ihrer Löcher nah am Erdmittelpunkt.

Zur Ostseetauglichkeit gehört, Sand als das zu akzeptieren, was er ist: allgegenwärtig. In Taschen, im Auto, in Schuhen, in allen Klamotten, auf der Kommode, dem Boden, im Bett und in jeder Ritze meiner Wohnung und meines Körpers. Nein, ich neige nieniemalsnicht zu Übertreibungen. Und nein, fegen, saugen und waschen nützen nichts. Es ist so ähnlich wie mit dem Konfetti vom Geierabend. Selbst nach einem Jahr findet sich irgendwo noch ein Rest. Ich komme mit Panade und Peeling ganz gut zurecht. Einzig in den Augen ist er wirklich unangenehm. Wenn man nicht mehr ganz so grünschnäbelig ist wie ich, hat man eine Windbrille, die den Sand bei entsprechendem Wetter in die Ohren umleitet.

Die ersten vier Monate und 125 Tage sind also rum. Die Liste der Dinge, die ich hier gern erleben möchte, wird täglich länger. Am nächsten Wochenende steht endlich der Kite-Kurs an, nächstes Jahr der Segelverein. Auf meiner Wunschliste ziemlich weit oben: Eine Tour immer die Küste entlang bis Finnland. Genug Schreibstoff für „Moin Schleswig-Holstein“ ist also vorhanden. Dass der Norden und ich ganz gut zusammenpassen, weiß ich bereits seit meinem ersten Fördebesuch im letzten Sommer. Da servierte mir meine Airbnb-Vermieterin, mit der ich heute ganz gern mal sundownere, eines Abends Labskaus. Und: keine Hemmschwelle weit und breit.

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