Halb acht. Der Lichtwecker taucht mein Schlafgemach in dunkles Rot. Ich schnarche arglos weiter. Einige Minuten später leuchtet es mir orange mitten ins Gesicht. Mein Hirn registriert eine unerwünschte Veränderung und wuchtet den dazugehörigen Körper auf die dem Licht abgewandte Seite. Doch der simulierte Sonnenaufgang lässt sich nicht aufhalten. Um viertel vor acht ist es taghell und fünf Minuten später geht das Vogelgezwitscher los. Tschilp, tschilp. Montagmorgen. Tschilp, tschilp. Aufstehzeit. Schnauze!
Ich öffne vorsichtig ein Auge um wie jeden Tag festzustellen, dass es erstens viel zu früh ist und ich zweitens Sonnenaufgänge und Vögel hasse. Mein Körper liegt wohlig unter einer warmen Decke, selbst die Füße haben die optimale Temperatur. Mein Hirn und alle meine Ichs empfinden diesen Zustand als perfekt und haben den dringenden Wunsch ihn exakt so beizubehalten. Eine halbe Stunde später hat sich daran nichts geändert. Wir liegen da, in seltener Einigkeit, und denken: So könnte es für immer bleiben. Weitere zehn Minuten später meldet sich das Disziplin-Ich: Du hast heute wirklich viel vor, streck doch zumindest mal einen Fuß raus. Montagmorgens steht es allerdings auf verlorenem Posten. Weitere Minuten später argumentiert mein Belohnungszentrum: Wie wäre es mit einem feinen Frühstück und einer ordentlichen Tasse Kaffee? Außerhalb vom Bett ist es kalt und ich sinke kraftlos in die Kissen.
Bettpfannen und Polizei
Letztlich gewinnen jeden Morgen die Grundfunktionen. Ich muss zum Klo und möchte den Zeitpunkt, diesen Vorgang unter Zuhilfenahme von Pfannen im Bett zu verrichten, möglichst weit in die Zukunft verlegen. Und würden die Rollos länger als einen Tag unten bleiben, müsste ich spätestens aufstehen, bevor die von meiner Nachbarin gerufene Polizei die Tür aufbräche. Diese Überlegungen führen dazu, dass ich gegen halb neun den inneren Widerstand gegen den neuen Tag aufgebe.
Laut Schlafforschung gibt es Eulen und Lerchen. Ich war immer schon eine Eule, die abends um elf gern staubsaugen und Gitarrespielen üben würde. Da dies das soziale Miteinander verkompliziert, schreibe ich um diese Zeit Pressemitteilungen oder übe Yoga. Zwölf, halb eins ins Bett + acht Stunden Schlaf = acht, halb neun. Rein rechnerisch bin ich völlig normal. Manchmal erwischen mich Nachbarn, wenn ich gegen zehn zu einem Termin fahre. „Ach, Frau Uuunderberg, heute schon sooo früh unterwegs?“ Inzwischen denke ich, das ist der pure Neid. Weil das eigene Kind um halb acht in die Schule muss und die Mutter sich diesem Zeitplan verpflichtet fühlt. In der Oberstufe hatte ich um viertel nach sieben (!) Chemie-Leistungskurs. Zur nullten Stunde. Zwei Stunden Chemie zu einer Uhrzeit, in der meine Hirnchemie noch seelig schlief und nichts ahnen wollte von alternierenden Doppelbindungen und vierdimensionalen Räumen. Wer die Menschheit mit solchen Stundenplänen quält, gehört lebenslang an den Schulgong gekettet.
Lerchen allein im Büro
In meinem Umfeld gibt es eine handvoll Lerchen, die es kaum erwarten können, morgens um halb sieben oder halb acht die ersten im Büro zu sein, weil das so unfassbar viele Vorteile hat. Man hat dann seine Ruhe bevor alle anderen kommen, man kann früher nach Hause gehen, die Straßen sind noch frei.
Um elf sind die Straßen auch frei.
Laut einer Studie würden achtzig Prozent der Bundesbürger gern später aufstehen. Das geht nicht, weil die gesellschaftlichen Regeln anders sind. Wer macht denn die Regeln? Vermutlich nicht nur die zwanzig Prozent Lerchen. Wir haben oft völlig unsinnige Vorstellungen davon im Kopf, wie Dinge zu sein haben. Wer früh aufsteht und sich quält, ist fleißig. Wer aufsteht, wenn er ausgeschlafen ist und sich nicht quält, ist faul. Oder kann es sich leisten.
Im Grunde ist der Wecker an sich, selbst wenn es ein menschenfreundlicher Lichtwecker ist, ein Produktivitätskiller. Warum schlafen Lebewesen? Die Wissenschaft weiß es noch nicht ganz genau. Aber es tauchen immer wieder dieselben Themen auf: Schlaf ist wichtig, um das Gehirn aufzuräumen. Schlaf ist wichtig für Gesundheit und Erholung. Wer zu wenig schläft, hat ein größeres Risiko für viele Krankheiten, zum Beispiel Alzheimer und Parkinson. Wenn ich ihn lasse, holt sich mein Körper den Schlaf, den er braucht. Wenn er fertig ist mit Schlafen, wird er wach. Von alleine. Wenn sich das durchsetzen würde, könnte die Weckerindustrie einpacken.
Morgenroutine
Die heutigen Persönlichkeitsentwickler, die uns erklären, wie wir aus uns mehr rausholen, setzen oft auf sogenannte Morgenroutinen. Es heißt, erfolgreiche Menschen stehen um fünf Uhr auf, meditieren, machen Sport, trinken einen Smoothie und sind dann um sieben die ersten im Büro. Selbst wenn das stimmt, frage ich mich immer, ob die alle tatsächlich abends um neun oder spätestens zehn im Bett liegen, damit sie auf ihre acht oder mindestens sieben Stunden Schlaf kommen. Dreißigjährige Jungs, die um neun ins Bett gehen, damit sie um fünf fit sind für ihre Morgenroutine? Mmh.
Ich bin nicht mehr dreißig und gehe alle hundert Jahre einmal um neun ins Bett. Wenn ich grippebedingt kurz vor dem Kollaps bin. Und auch dann stehe ich nicht um fünf Uhr auf, sondern wenn der genesene Körper genehmigt: Ich bin soweit, jetzt geht’s los.