Eine Kieler Weihnachtsgeschichte

Kiel ist eine echte Randerscheinung. Von allem ziemlich weit weg, niemand kommt zufällig hier oben vorbei. Keine Bahn, kein Tourist und der Weihnachtsmann auch nicht. Im Zuge des Fachkräftemangels hat sich dies in den letzten Jahren zu einem echten Problem entwickelt, das nun endlich gelöst werden sollte.

Der zuständige Weihnachtsmannverein hat seinen Sitz in Engelskirchen in der Nähe von Köln. Früher gab es einen Weihnachtsmann inklusive Rentier pro Stadt, aber die Mitgliederzahlen schrumpfen immer weiter und Frauen sind bis heute nicht zugelassen. Die Strukturen sind also ziemlich marode, die Zweigstelle in Himmelpforten bei Hamburg musste bereits komplett geschlossen werden. Die Zeit der alten weißen Männer ist vorbei, selbst an Weihnachten. In diesem Jahr hat sich keiner mehr gefunden, der bereit war den weiten Weg auf sich zu nehmen, um die abgelegene Stadt an der Förde zu beliefern.

Hein Daddel hat keine Lust

Seit Corona arbeiten die Weihnachtsmänner hauptsächlich im Homeoffice, aber für den 24. Dezember konnten sie das gegenüber ihren Auftraggebern noch nicht durchsetzen. Daher beschränken sie sich inzwischen auf ihre Kernkompetenzen – Kiel zu beliefern gehört nicht dazu. So bemühten sie sich um Ersatz vor Ort. Vergeblich. Der Oberbürgermeister hatte sich mit anderweitigen Verpflichtungen herausgeredet und das Zebra Hein Daddel, das hauptberuflich als Maskottchen für den lokalen Handballverein THW arbeitet, hatte keine Lust fliegen zu lernen.

Da hatte der für das pfälzische Frankenstein zuständige Weihnachtsmann eine Idee. In den letzten Jahren hat sich die Sexpuppenindustrie rasant entwickelt. Die Puppen werden nicht nur optisch immer lebensechter, sondern können dank Künstlicher Intelligenz inzwischen auch sprechen, sitzen und sogar laufen. Man merkt fast keinen Unterschied. Und der Clou: Die Puppen lassen sich durch ein ausgeklügeltes Modulsystem komplett nach eigenen Wünschen konfigurieren.

Da der Weihnachtsmann und das Rentier den vorhandenen Puppenmodulen nicht besonders ähnlich sahen, waren Sonderanfertigungen nötig. Die eine auf Basis von Johnny 2.0 und die andere auf Basis einer japanischen Winkekatze. Sollte sich das bewähren, könnten die beiden in Serie gehen und dann würden sich die aktuellen Mehrkosten schnell rechnen.

Mitte Dezember wurden Weihnachtsmann Johnny und Rentier Rolf endlich geliefert. Nun mussten ihre zahlreichen Sensoren speziell auf Kiel trainiert werden, damit der Algorithmus bis zum 24. Dezember über alles Wesentliche Bescheid weiß und die beiden selbstständig durch die Stadt steuern kann.

Der erste Übungsflug startete an einem winterlichen Abend an der Kiellinie. Nach wenigen Metern, der Schlitten hatte kaum vom Boden abgehoben, krachte Rolf in einen Radfahrer, der ortstypisch ohne Licht unterwegs war und in hohem Bogen vom Rad mit dem Kopf voran in die Förde flog. Er schimpfte wie eine Möwe, der man das Fischbrötchen geklaut hatte, und der Algorithmus notierte: Erstens: Nachtsichtsensor nachrüsten. Zweitens: Norddeutsche sind gar nicht wortkarg.

Dietrichsdorf wie ausgestorben

Der Weihnachtsmann ruckelte den Schlitten zurecht und es ging weiter über Düsternbrook, den Botanischen Garten, Mettenhof, die Hörn und Gaarden. Überall waren Menschen auf den Straßen, die Glühwein tranken und gebrannte Mandeln futterten. Die Sache schien einigermaßen klar. Am Ostufer über Dietrichsdorf war plötzlich etwas anders. Leergefegte Straßen. Kein Mensch, nirgends. Seltsam. Johnny und Rolf landeten und fuhren langsam durch die Straßen um herauszufinden, was hier passiert war. Wo waren all die Menschen, die sie in wenigen Tagen beschenken sollten?

Blaulicht. „Achtung, Achtung, hier spricht die Polizei. Verlassen Sie auf der Stelle den gesperrten Bereich! Ich wiederhole: Verlassen Sie augenblicklich das Evakuierungsgebiet!“ So kam es, dass die Bombenentschärfung erst mit zwei Stunden Verspätung beginnen konnte. Nun hasst ganz Dietrichsdorf den Weihnachtsmann. Das Gespann ergriff die Flucht und der Algorithmus notierte: Drittens: Vor Rundflügen Facebookseite der Polizei checken.

Johnny und Rolf flogen zügig weiter quer über die Förde Richtung Nord-Ostsee-Kanal. Das meiste hatten sie inzwischen gesehen und mit ein paar Updates schien der Bescherung an Heiligabend nichts im Wege zu stehen.

Büschn Wind

Eine kräftige Windböe erfasste den Schlitten seitlich, die Signale sämtlicher Sensoren lieferten nur noch das, was man früher als Bandsalat kannte. Rolf knallte mit dem Geweih gegen die Holtenauer Hochbrücke. Der Aufprall war so gewaltig, dass ein großes Stück der Brücke herausbrach und in den NOK fiel. Brücke und Kanal mussten auf unbestimmte Zeit für Autos und Schiffe gesperrt werden. Jetzt hasste halb Kiel den Weihnachtsmann. Der Algorithmus notierte: Viertens: „Ein bisschen Wind“ neu definieren.

Johnny und Rolf setzten ihren Rundflug fort. Auftrag ist Auftrag. Die Hardware war ziemlich robust, von Materialermüdung keine Spur. Dafür war der Akku inzwischen fast leer und die nächste Ladestation weit entfernt. Der Schlitten taumelte, umkreiste mit letzter Kraft die Innenstadt und fiel dann wie ein Stein vom Himmel. Er durchschlug das Dach der Ostseehalle, in der gerade ein wichtiges Spiel der Handball-Champions League lief, wo es kurz vor Schluss 24 zu 24 stand. Das Spiel wurde unterbrochen, der THW wegen Sabotage disqualifiziert und in den nächsten zwei Jahren müssen alle Heimspiele in Flensburg stattfinden. Der Algorithmus notierte: Fehler 404.

Der Oberbürgermeister und das Zebra Hein Daddel erklärten sich jetzt doch noch bereit einzuspringen, aber es war zu spät. Der Weihnachtsmann kann sich in Kiel nie wieder blicken lassen.

In der Weihnachtsmannvereinszentrale in Engelskirchen fiel die Bilanz dieses norddeutschen Experiments mit Künstlicher Intelligenz gemischt aus. Der Aufwand die Hard- und Software aus Japan und den USA an die hiesigen Verhältnisse anzupassen, war doch recht groß. Aber sie hatten in den Daten eine interessante Entdeckung gemacht: Die nördlichste deutsche Hauptstadt hatte sich unter dem Radar der überregionalen Wahrnehmung in den letzten Jahren offenbar zum heimlichen Zentrum der Künstlichen Intelligenz entwickelt. Vielleicht sollten sie es im nächsten Jahr nochmal mit einer ganz neuen Strategie probieren. Alle, die in diesem Bereich arbeiten, tragen nämlich einen Erkennungscode auf ihren Fahrzeugen: KI.

Für 2023 war die Sache allerdings gelaufen.

Frohe Weihnachten! 😉

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