Glaub doch, was du willst

Gehirn

Mein Hirn begann früh ein gewisses Eigenleben zu führen. Es weigerte sich strikt, Kriege und Könige aus vergangenen Jahrhunderten abzuspeichern, der Dreifelderwirtschaft Platz einzuräumen und dem lateinischen Ablativ Zutritt zu gewähren. Schlechte Noten sorgten für Ärger und ordentlich Druck. Das ist die denkbar dümmste Methode, ein Hirn zum Arbeiten zu bewegen. Sind die angebotenen Informationen für mein Überleben wichtig? Nein. Erfreuen sie mein neuronales Belohnungssystem? Nein! Was soll das dann? Bitte gehen Sie weiter, es gibt hier nichts zu sehen.

Es merkt sich, was es wichtig, interessant oder schön findet. Ich bin ihm sehr dankbar für diese Selektion. Was in mein Bewusstsein vordringt und sich dort festsetzt, ist immer noch mehr als genug Material zur Weiterverarbeitung. Mein Gehirn wählt die Informationen jedoch nicht nur aus, es bewertet sie auch. Es bildet sich eine Meinung. Zum Beispiel: Der Lateinlehrer ist doof. Das wiederum sorgt zuverlässig dafür, die eigene Aufnahmebereitschaft für sämtliche Informationen, die dieser in den Klassenraum sendet, auf Null zu stellen. Aus der Fünf wird eine Sechs und aus der Meinung Wahrheit. Da ich damals den Nocebo-Effekt noch nicht kannte, wechselte ich auf eine lateinlehrerfreie Schule.

Was mein Hirn zu wissen glaubt, hält es für die Wahrheit. Bäume sind grün. Eine Katze ist entweder tot oder lebendig. Dicke Bohnen sind eklig. Geschichtslehrer sind auch doof. Die Summe aller meiner Wahrheiten – ich schätze mal, das sind locker ein paar Millionen – ergibt dann mein Bild von der Welt. In dieser Welt bewege ich mich und finde an jeder Ecke neue Beweise für das, was mein Hirn so glaubt.

Der Placebo-Effekt ist deswegen so großartig und spannend, weil er Hinweise darauf gibt, wie Menschen ihre eigene Wirklichkeit produzieren. Benjamin Franklin, der Erfinder des Blitzableiters und Mitautor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung, war der erste, der 1784 einen kontrollierten Versuch mit Placebo durchführte. Ein Arzt behauptete, aus der Ferne heilen zu können. Um dies zu prüfen, setzte Franklin Arzt und Patienten in verschiedene Zimmer. Ergebnis: Der Behandlungserfolg hing ausschließlich davon ab, ob die Patienten GLAUBTEN, der Arzt säße im Nebenraum.

Aktuelle Studien zeigen zum Beispiel, dass Placebos erstaunlich gut gegen Zwangserkrankungen helfen und dass sie Liebeskummer lindern können. Selbst Scheinoperationen können dazu führen, dass sich die Patienten nach der Behandlung besser fühlen. Beim Placebo-Effekt handelt es sich nicht um Einbildung, sondern um messbare neurobiologische und physiologische Veränderungen. Wenn ich also glaube, mir wurde von außen geholfen, geht es mir tatsächlich besser. Die Forschung sagt, hier wirken die eigene Erwartung und die Konditionierung, ähnlich wie beim Pawlowschen Hund.

Entscheidend ist, was ich glaube, was mein Hirn denkt, was ich also für die Wirklichkeit halte. Der Nocebo-Effekt funktioniert genauso, nur für negative Ereignisse: Wenn ich zum Beispiel bei einem Medikament Nebenwirkungen erwarte, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sie tatsächlich eintreten.

Mein Hirn produziert meine Realität. An dieser Stelle möchte ich mit einem riesengroßen blinkenden Ausrufezeichen winken. Der Placebo-Effekt ist nicht deswegen interessant, weil er hilft, den Nutzen „echter“ Medikamente zu testen oder noch geschicktere Placebos zu entwickeln. Nicht jedes Placebo wirkt nämlich gleich, sondern die Wirkung hängt davon ab, wie die Verpackung aussieht, wie groß die Tabletten sind, wie nett der Arzt ist usw.. Der Placebo-Effekt ist so spannend und aufschlussreich, weil er zeigt, wie mächtig meine Gedanken sind. Wenn ich das wirklich ernst nehme, brauche ich keine Placebos mehr. Es reicht völlig, wenn ich an mich und mein Hirn glaube.

Wie ich mein Hirn kenne, sind Placebo- und Nocebo-Effekt ein triftiges Indiz dafür, wie es grundsätzlich tickt. Wenn bei gesundheitlichen Fragen so entscheidend ist, was ich denke und erwarte, warum sollte das in anderen Lebensbereichen anders sein?

Ab und zu mache ich ein kleines Experiment im Supermarkt oder in ähnlichen Situationen. Ganz bewusst schalte ich die „normale“ Wahrnehmung und die „normalen“ Gedanken – es ist voll und laut, überall schlecht gelaunte Leute, bloß schnell durch und raus hier – ab und eine andere Wahrnehmung mit anderen Erwartungen an. Ich stelle mir vor, dass diese Situation in diesem Augenblick meine ganz persönliche Inszenierung ist, ich bin Regisseurin und Hauptdarstellerin. Und siehe da: Ich bin entspannt und gut gelaunt, die Menschen sind freundlich, ich finde, alles, was ich brauche, es läuft wie von selbst. Ein simpler Trick, wenn man am Anfang vielleicht noch nicht wirklich glauben kann, dass das, was man glaubt, einen so großen Unterschied macht.

Bäume sind nicht grün und die Katze ist gleichzeitig tot und lebendig. Latein bleibt doof. Punkt.

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