Es ist nicht so, dass es nichts zu tun gebe. Was die Sache manchmal lähmt, ist, dass man unterschiedlicher Auffassung über das Was sein kann. Und das Wie. Insofern nehme ich die bundesregierungsfreie Zeit zum Anlass, meinem Hirn einmal freien Lauf zu lassen.
Erinnern Sie sich an Hans-Werner Sinn? Den optisch älteren Bruder von Abraham Lincoln und ideologisch langjährigen Chef des ifo Instituts? Ich bekam zuverlässig Schnappatmung, wenn er in der Zeitung, im Radio oder Fernsehen auftauchte und seine Sicht auf die Welt verallgemeinerte. Seit dem Frühjahr 2016 hat er einen Nachfolger. Es ist der Münchener Professor für Volkswirtschaft Clemens Fuest. Meine Generation. Ich verwette meinen mambogelben Panda, dass er schon Mitte der Achtziger mit Popperfrisur im Boss-Sweatshirt auf dem Schulhof nicht in der Ecke rauchte. Und nicht nur noch nie gekifft, sondern spätestens mit Mitte zwanzig sein erstes Aktienpaket in den Sand gesetzt hat.
Erfahrung, Meditation und Yoga haben mich gelehrt, dass Schnappatmung klarem Denken und gesundem Schlaf abträglich ist. Eine gewisse Altersweisheit und -milde haben von mir Besitz ergriffen und in der Regel segele ich damit lächelnd durch das Meer meiner Alltage.
Außer manchmal.
Kürzlich trat Clemens Fuest in einem Film auf. „Die Story im Ersten: Der Wohlstandsreport“. Er war als Antiheld besetzt und hat diese Rolle souverän ausgefüllt. Mein weises Hirn hat das durchaus registriert. Es ist nur ein Zellhaufen, der Schallwellen produziert, es hat nichts zu bedeuten, cool bleiben.
Mein Zellhaufen hat trotzdem seinen Puls beschleunigt und an unser Hirn gemeldet, dass wir gerade eine Kampfansage empfangen haben. Ab Minute 40:23 sagt ifo-Chef Fuest zum Thema Grundeinkommen wörtlich: „Wollen wir wirklich ganze Teile der Bevölkerung aufgeben und sie abhängig machen von dem, was andere erarbeiten? Wollen wir das wirklich? Oder wollen wir bei dem bleiben, was wir heute haben, das heißt einen Sozialstaat, der einen Schwerpunkt auf Aktivierung setzt, das heißt der jeden, der von Transfers abhängig ist, immer wieder auffordert zu arbeiten und selbst für sich zu sorgen?“
Clemens Fuest ist nicht irgendein Professor. Er ist u.a. Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums. Die Bundespolitik holt sich also Rat von einem Professor, der ein Menschenbild hat, das davon ausgeht, man müsse Menschen zwingen, ihren Beitrag zu dieser Gesellschaft zu leisten. Wer nicht ordentlich unter Druck gesetzt wird, liegt auf der faulen Haut und lässt andere für sich arbeiten? Ich verbohrte, unwissende Nichtökonomin denke sofort an Paradise Papers, dabei meint er doch Hartz IV-Empfänger.
Vor einigen Wochen gab es ein schönes Radiofeature auf WDR5 oder im Deutschlandradio über Wirtschaftswissenschaften an und für sich. Leider habe ich die Quelle nicht wiedergefunden. Sinngemäß wurde dort ausführlich erklärt, dass es sich hierbei nicht wirklich um eine Wissenschaft handele, dass im Grunde alle Prognosen, die Ökonomen in den letzten Jahrzehnten vorgenommen haben, falsch waren – siehe zum Beispiel Finanzkrise 2008 -, und dass an den Hochschulen nicht Wissenschaft, sondern mehr oder weniger ausschließlich Neoklassik – das sind die mit dem Homo Oeconomicus -, also eine einzige ökonomische Theorie, gelehrt werde. In keinem anderen Studienfach gibt es eine solche ideologische Beschränkung.
Lauscht man Clemens Fuest, könnte man auf die Idee kommen, er hat tatsächlich noch nie gehört, dass es auch andere ökonomische Theorien gibt. Und andere Disziplinen. Hirnforschung zum Beispiel. Für Theorien braucht man vereinfachende Grundannahmen. Ja. Aber wäre es nicht eine großartige Idee, die eigenen Grundannahmen ab und zu mit dem Stand des allgemeinen Wissens abzugleichen?
Zu den Risikofaktoren für Depressionen gehören zum Beispiel psychische Belastungen wie der Verlust des Arbeitsplatzes und finanzielle Nöte. Zu den Risikofaktoren für Demenz zählen zu wenig Bewegung, geistige Unterforderung und soziale Isolation. Im Umkehrschluss heißt das, dass ein bisschen Sicherheit, Bewegung, Mitdenken und Mitmachen also offenbar hilfreich sind, damit Menschen – länger – gesund bleiben. Wenn das so ist, vielleicht muss man dann die Menschen zur Teilhabe, wie es im politischen Diskurs so schön heißt, gar nicht zwingen?
Es ist ein autoritäres Menschenbild, das davon ausgeht, Menschen zum Tätigsein „immer wieder auffordern“ zu müssen. Und ein lächerliches. Natürlich gibt es Menschen, die lieber länger schlafen als für den Mindestlohn Pakete durch die Gegend zu schleppen. Kein Sanktionssystem der Welt wird daran etwas ändern. Hartz IV bringt Menschen nicht dazu, für sich selbst zu sorgen. Es bringt Menschen dazu, Wege zu finden, diesem System zu entkommen. In Dortmund gibt es aktuell den absurden Fall, dass einem Hartz IV-Empfänger, der beim Betteln erwischt wurde, die Leistungen gekürzt werden. Wenn er schlau ist, setzt er sich künftig mit seinem Hut in eine andere Innenstadt.
Man stelle sich einmal vor, dieser Mann bekäme einfach so jeden Monat tausend Euro. Nicht, weil er irgendwas leistet, sondern weil es ihn gibt und er allein deswegen ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben hat. Vielleicht käme er dann auf die Idee, in einem Repaircafé anderen Menschen zu helfen, ihr Fahrrad oder ihre Kaffeemaschine in Ordnung zu bringen? Oder er baut auf einer kleinen Grünfläche im Hinterhof Gemüse an und verschenkt es an die Nachbarn? Vielleicht hat er einen Hund und besucht mit ihm in die Demenz-WG nebenan, weil die alten Leute Freude an Tieren haben? Vielleicht sucht er sich einen bezahlten Job und kann einmal im Jahr ein paar Tage Urlaub an einem sonnigen Strand machen?
Hartz IV entspringt nicht nur einem veralteten Menschenbild, sondern einem überholten Gesellschafts- und Wirtschaftsmodell. Klassenkampf alter Schule. Wenn aufstiegsorientierte brionitragende Cohibaraucher ihre eigene Vergangenheit verachten, kommt so etwas wie Hartz IV dabei heraus. Seit geraumer Zeit leben wir in einer Gesellschaft, die immer weniger gehorsame und genügsame Fließbandarbeiter*innen braucht, sondern für die selbstständige, kreative und lebenslang lernbereite Menschen immer wichtiger werden, um den gesellschaftlichen Wohlstand aufrechtzuerhalten.
Siemens schließt demnächst seine Werke in Ostdeutschland. Wozu will der Staat die menschlichen „Überkapazitäten“ dann immer wieder auffordern? In zehn, zwanzig Jahren wird es Millionen Jobs nicht mehr geben und unsere Gesellschaft wird so oder so nicht um irgendein Modell von Grundeinkommen herumkommen. Es gibt unzählige Modelle. Zukunftsweisend wäre, wenn wir uns darüber unterhalten, welches Modell wir bei uns gern hätten. Welches Menschenbild möchten wir einem solchen Modell zugrundelegen? Das von Clemens Fuest oder eins, das zu unseren heutigen Erkenntnissen passt?