Mein Hirn & ich hatten gewählt

Willy Brandt-Statue

DIE SPD IN FUTUR II

Ich bin als Arbeiterkind gegenüber vonne Zeche aufgewachsen, also von Hause aus sozialdemokratisch-rot, mein Hirn ist seit den achtziger Jahren überwiegend grün. Mit vierzehn trug ich aus Protest gegen Krieg und meine Eltern lila Latzhose, Hennahaar und goldene Nickelbrille und schwieg freitagmittags vor Woolworth für den Frieden. Für Greta habe ich also schon deshalb Sympathien, weil sie meinen pubertären Widerstand rückblickend visionär aufwertet.

Meine damals beste Freundin trug neben gefärbten Stoffwindeln häufig ein schwarz-weißes Palästinensertuch. Ich hatte keinen Schimmer, was das bedeutete. Bei uns Zuhause gab es außer einem einbändigen Weltlexikon keine Bücher, drei Fernsehsender und kein Internet. So ging ich ahnungslos aus der Provinz an die Uni und fühlte mich in der Fachschaft von den handfesten Linken, die teilweise in der SPD waren, deutlich mehr angezogen als von den bürgerlich-intellektuellen Grünen.

Anfang der neunziger Jahre durfte ich für die Uni-Zeitung ein Interview mit Gregor Gysi führen. Am Ende des anschließenden Kneipenbesuchs in größerer Runde küsste er alle Frauen und gewann so ein paar Herzen und neue PDS-Mitglieder. Bei mir verzögerte dies den Eintritt in die SPD um ein, zwei Jahre. Mehrfach nahm ich mir vor endlich einzutreten, wenn die Partei bei der nächsten wichtigen Entscheidung das tut, was ich richtig finde. Das ist bis heute nie passiert. Irgendwann trat ich trotz statt wegen ihrer realen Politik ein. Aus Prinzip, als Arbeiterkind, wegen Sozialismus als Utopie und der Doppelstrategie meiner Uni-Gruppe.

Als AStA-Sozialreferentin hatte ich ein Plakat der damaligen Troika aus Schröder, Lafontaine und Scharping im Büro hängen. Das fand ich damals ähnlich witzig wie die Wandzeitung – eine Art analoges Facebook mit selbstgemalten großformatigen Werbebotschaften -, die ich im AStA-Wahlkampf bei den Wirtschaftswissenschaftlern aufhängen wollte, aber nicht durfte: „Ihr habt mehr zu verlieren als eure Kettchen“. Zu dieser Zeit ließ ich mich musikalisch von Ernst Busch und Wolfgang Petry inspirieren. Wer weder den einen noch den anderen kennt: herzlichen Glückwunsch.

Knapp fünfundzwanzig Jahre später gibt es nun dieses Internet und mein Hirn freut sich über den grünen EU-Wahlerfolg, den es beigetragen hat zu befördern. Meine Großmutter hat folgenden Glaubenssatz weitervererbt: Man muss immer das Schlechteste erwarten, um nicht enttäuscht zu werden. Ich rate grundsätzlich dringend von einer solchen Weltsicht ab, in Bezug auf die SPD allerdings erleichtert sie Verharrungsvermögen und Leidensfähigkeit. Gerade gestern fragte mich eine Freundin, ob es nicht ungewöhnlich sei, eine andere Partei zu wählen als die eigene. Als SPD-Mitglied fällt das in Zeiten von Hartz IV und Groko unter Notwehr und ich kenne nicht wenige, die es nach eigener Aussage ähnlich handhaben.

Eins der wenigen verbliebenen Argumente für die alte Tante ist die Arbeit vor Ort. In den Städten und in der Region machen zum Teil sehr gute Leute einen zum Teil sehr guten Job. Ich könnte noch Kevin Kühnert als Argument anführen, eine Art Hoffnungsträger. Aber der Umgang etlicher Parteifunktionär*innen mit dem Vorsitzenden ihrer Jugendorganisation ist derart altbacken und arrogant, dass dies als Gegenargument schwerer wiegt.

Als Selbstständige mit abgeschlossenem Studium und ohne Kinder gehöre ich schon lange nicht mehr zur Zielgruppe der Sozialdemokratie. Ich kann mich kaum erinnern, wann ich das letzte Mal das Gefühl hatte, von einem SPD-Thema persönlich betroffen zu sein. Homepage der Bundespartei, Stand heute, sechs zentrale Themen gibt es dort: Familien, Wohnen, Gesundheit, Pflege, Rente und Migration. Alles wichtig, keine Frage. Kann mir mal jemand verraten, warum „Arbeit“ als Thema überhaupt nicht mehr auftaucht? Oder warum Klimaschutz fehlt? Wäre ich kleinlich, könnte ich auch noch Bildung und Digitalisierung vermissen.

So eine Internetseite ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt der Wirklichkeit, aber eben doch eine Art Visitenkarte, an der Interessierte auf einen Blick erkennen können sollten, worum es geht. Mich würde eine SPD interessieren, die neue, zukunftsfähige Antworten sucht und ab und zu auch findet auf die sozialen, ökologischen und ökonomischen Herausforderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht.

Stattdessen erlebe ich immer noch, dass ein paar Euro hier und ein paar Euro dort verteilt werden, in der absurden Hoffnung, dass die ehemalige Klientel endlich ein Einsehen hat und reumütig zurückkehrt. Für ernstgemeinten Klimaschutz ist dann leider nichts mehr übrig, zumal man ja auch bloß niemandem vor den Kopf stoßen will, den Armen nicht, aber den Reichen und allen anderen auch nicht. Was am System ändern? Soziales, Umwelt und Wirtschaft zusammen denken? Zu radikal. Hartz IV war auch radikal. Wäre die CDU auf diese Idee gekommen, hätte die Sozialdemokratie so getan als wäre sie zur Revolution bereit, um sie zu verhindern.

Nach der aktuellen Wahlpleite geht es nun erneut munter weiter mit Personaldebatten. Andrea Nahles ist nicht das Problem, sondern nur ein Symptom. Aber macht mal. Inzwischen zieht die Karawane weiter. Mein Tipp für die nächste Wahl: zwölf Prozent. Meine plusquamperfekte Intuition habe ich bereits im letzten Jahr bewiesen. Sozialdemokratie in Futur II: wird wichtig gewesen sein.

 
 

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