In meinem Umfeld gibt es immer mehr Menschen, die auf Mediendiät sind. Die nicht nur keinen Fernseher haben, sondern die sich ganz bewusst dem täglichen Nachrichtentsunami entziehen. Mein Hirn und ich jonglieren durch sehr verschiedene Welten und haben immer mehr Fragen, je älter wir werden. Als die Mauer fiel und Ost-West Geschichte wurde, waren wir in der Oberstufe. Mein Hirn im Chemie-LK, ich im Drübbelken. Oder umgekehrt. Je nach Lesart war damals der Westen oder der Osten schwarz oder weiß, gut oder böse.
In den Jahren danach wurde es immer unübersichtlicher. Wertet mein Hirn heute die Weltlage aus, meldet es maximale Multidimensionalität auf dem nicht enden wollenden Trumpelpfad. Das einzige, was sich über die Jahrzehnte nicht verändert hat, sind die nicht wenigen Männer, die immer noch glauben, sie gewönnen eine Eintrittskarte in den Schlaumeierhimmel, wenn sie andere mit dem penetrieren, was sie für die Analyse der Weltlage halten.
Ursprünglich hieß dieser Text „Mein Hirn & ich im Kapitalismus“, aber dann erschien mir der Trumpelpfad weniger, äh, komplex. Donald Trump ist nur ein Symptom. Ende meiner Weltlagenanalyse.
Wenn ich mich also in der Welt umsehe, kann ich je nach Tagesverfassung zu verschiedenen Eindrücken gelangen. Lese ich tagesaktuelle Nachrichten, inhaliert mein Hirn überall Krisen, Krieg, Korruption, Terror, Armut, Klimawandel, Plastikmüll. Kurz: Horror und drohender Weltuntergang. Schaue ich genauer hin, entdecke ich zahlreiche Indizien, dass es den Menschen weltweit noch nie so gut ging wie heute. Und dass Bill Gates, Mark Zuckerberg, Warren Buffet und ein paar andere zusammen so viel Geld besitzen wie die ärmere Hälfte der knapp siebeneinhalb Milliarden Menschen, die sonst noch so auf diesem Planeten ihr Glück versuchen.
Schaue ich mich in meiner näheren Umgebung um, ist alles sehr schön. Überwiegend nette Menschen auf der Suche nach sich selbst oder einer neuen Hose. Leidlicher Wohlstand, für ein Gläschen Rotwein und die Sommerdeko von Ikea reicht’s immer. Frieden, wenn man mal vom Gezänk in Ehen oder unter Kollegen absieht. Und eine gewisse Freiheit, abgesehen vom Stau auf der A40, der viele Menschen zu nachtschlafender Zeit an Orte bringt, wo sie lieber nicht wären, nur damit sie sich Hose, Kerzenhalter und Auto leisten können.
Bemühe ich mein Hirn, kommen ein paar Gedanken hinzu, die ich mir in der Regel nicht mache, weil ich einigermaßen damit ausgelastet bin, meinen Alltag zu bewältigen. Der Kerzenhalter kommt vermutlich aus China. Wäre die Luft in China besser, könnte ich mir vielleicht nur noch die Kerze leisten und der Kerzenhalterhersteller wäre arbeitslos. Will ja auch niemand. Außerdem kann es gut sein, dass die Maschine, an der der Kerzenhalterhersteller steht, aus Deutschland kommt. (Und die Maschinenfabrik demnächst an einen chinesischen Investor verkauft wird.) Die Hose, egal ob sie hier sehr billig oder sehr teuer ist, wurde vermutlich in Bangladesch genäht. Unter Bedingungen, die es in Europa erfreulicherweise nicht mehr gibt. Irgendwas muss ich ja anziehen. Nur noch Bio und Fair Trade kaufen, muss man sich auch erstmal leisten können.
Alle paar Jahre einigen mein Hirn und ich uns auf das kleinere zu wählende Übel, in dem sich zuweilen VolksvertreterInnen tummeln, die überwiegend ihre eigenen Interessen vertreten. In Parteien ist oft ein klebriger Cocktail aus Ränkespielkunst und Selbstausbeutung gefragt. Wer es da nach oben schafft, hat womöglich ein paar Eigenschaften, die dafür sorgen, dass der Trumpelpfad bleibt wie er ist.
Tja.
Und nun? Fernseher aus dem Fenster werfen und erstmal eine Runde shoppen. Kunsthandwerk aus der Uckermark.
Oder braucht dieser scheinbar desillusionierte Text trotz allem ein Happyend?
Die praktische Anwendung des Kategorischen Imperativs ist zumindest ein guter Anfang. Findet mein Hirn. Und ein Gläschen Rotwein dazu. Finde ich.