Übersicht
- 1 Der Lutterbeker in Lutterbek
- 2 Kneipe? Bühne? Wohnraum? Genau.
- 3 Ein Friseur, keine Bäckerei
- 4 Angst um Gewehre und Bierkisten
- 5 Die ganze Welt treffen
- 6 Experte für alles
- 7 Wer es hier schafft, schafft es überall
- 8 Jurte und Bauwagen
- 9 Gejagtes und Gesammeltes
- 10 Kein Antragsbeauftragter
- 11 analog & digital
Der Lutterbeker in Lutterbek
1975 haben sich ein paar Hippies in einem abgelegenen Dorf an der Ostsee ein sehr altes Haus ausgesucht, um ihre Träume zu verwirklichen. Am Anfang wollten die Dorfbewohner sie mit Mistgabeln verjagen, heute feiern sie im Lutterbeker ihre Feste. Gerburg Jahnke, Ina Müller, Tim Fischer und viele andere sind dort aufgetreten. Da ausgerechnet zum Jubiläum Lockdown ist, lässt sich Familie Marx wieder was Neues einfallen.
Als ich das erste Mal durch Lutterbek fuhr und, weil das Dorf ebenso entzückend wie klein ist, dabei automatisch am Lutterbeker vorbeikam, dachte ich sofort: Irgendwas ist damit. Das Haus hat was. Dann erzählte eine Freundin, letztens hätte Ulla Meinecke dort gespielt. Eine durchaus prominente Sängerin tritt in einer Dorfkneipe am oberen Rande des Landes auf? Da ich seit ein paar Monaten in der Nähe des Lutterbekers wohne, war ich inzwischen schon häufiger als Gast da und fühlte mich durch die Atmosphäre und die Speisekarte, auf der Bauernfrühstück mit Speck unter „Gemüsegerichte“ steht, wohlig ans alte „Oblomow“, meine Bochumer Stammkneipe aus Studienzeiten, erinnert.
Kneipe? Bühne? Wohnraum? Genau.
Allerdings wäre Ulla Meinecke niemals im Oblomow aufgetreten, nicht nur, weil kein Platz für sowas war. Da musste also noch mehr sein. Kürzlich wurde im Lutterbeker ein Film gezeigt: „Lutterbeker – Der Film“. Eine hinreißende Dokumentation über die ersten vierzig Jahre. Hajo Sommers, Chef des Oberhausener Ebertbads, Präsident des Fußball-Regionalligisten Rot-Weiß Oberhausen und Dauerverlobter von Gerburg Jahnke, sitzt zu Beginn des Films im Garten des Lutterbekers und fasst den Charme dieses Ortes zusammen: „Es hat immer ein bisschen von: früher, also als ich jung war. Und es hat immer ein bisschen von: es ist anders.“ Oberhausen liegt zwischen Duisburg, Bottrop und Essen. Tiefstes Ruhrgebiet, da, wo man mindestens so handfest ist wie hier oben. Passt schon. Man versteht sich.
„Der Lutterbeker“ – was ist das nun genau? Kneipe, Restaurant, Bühne, Galerie, Laden und drei Appartements. Ja, all das. Trotzdem ist die richtige Antwort: Der Lutterbeker – das sind Strupp und Wolfgang und die vielen anderen Seelen, die dem Haus das Leben einhauchen. Einem Haus, das in Wahrheit viel, viel größer ist als es zunächst von außen scheint. Viereinhalbtausend Kubikmeter umbauter Raum, zweitausend Quadratmeter Garten, Millionen Ecken, unzählige Türen, Treppen, Zimmer, Wege und Winkel.
Ein Friseur, keine Bäckerei
Die ersten Gebäude des Lutterbekers sind etwa zweihundert Jahre alt, seit den 1860er Jahren ist ein Ausschank dokumentiert. Vor 45 Jahren kamen Wolfgang, Strupp und in der Anfangszeit noch zwei andere, pachteten den Komplex zunächst und kauften ihn später. Eröffnet wurde der Lutterbeker am 4. November 1975, also fast auf den Tag vor 45 Jahren. Im Dorf leben 350 Menschen, es gibt einen Friseur, keine Bäckerei, bis zur Ostsee sind es drei Kilometer. Strupp – unter diesem Namen kennt man die Chefin in der ganzen Region – und Wolfgang haben irgendwann geheiratet, Nachname: Marx, und zwei Kinder bekommen. Lasse und Linn sind längst erwachsen, Linn hat selbst einen kleinen Sohn und lebt mit Kind, Freund und Eltern in der oberen Etage des Lutterbekers.
Angst um Gewehre und Bierkisten
Linn ist Fotografin, schmeißt den Laden heute gemeinsam mit Strupp und Wolfgang und sie war es auch, die den Film gemacht hat. Ein tausendteiliges Puzzle über eine Geschichte, an deren Erfolg anfangs kaum jemand glaubte. So erklärt ein ehemaliger Bürgermeister im Film: „Keiner aus dem Dorf war damals davon überzeugt, dass das was wird.“ Im Gegenteil, zu Beginn war das Misstrauen groß. Die Nachwuchskneipiers kamen auf Motorrädern angefahren, um das Haus zu besichtigen, und wurden von den Dorfbewohnern mit Mistgabeln empfangen. „Sie dachten, wir würden das Haus besetzen und hatten Angst um ihre Gewehre und ihre Bierkisten“, erzählt Strupp.
Die jungen Leute ließen sich nicht verscheuchen und einige Monate später öffnete der Lutterbeker die Kneipentür. Das Dorf beäugte die Hippies noch eine ganze Weile skeptisch. „Da liegen Teppiche auf den Tischen, da geh’n wir nicht hin“, fremdelte eine Landwirtin. Vieles war unklar, manches blieb eine Baustelle, aber eins stand immer fest: „Der Lutterbeker ist ein Ort für Krawatte und Blaumann, Fahrrad und Porsche, Gummistiefel und Feinstrumpfhose.“ So fasst Strupp das Konzept zusammen. Für alle. Keine Zielgruppe.
Die ganze Welt treffen
Ein paar Stammgäste sitzen rauchend am Tresen, schauen in Linns Kamera und beschreiben es so: „Egal was für Leute, ob das schöne, hässliche, dumme oder intelligente oder sonstwas für Leute sind, die werden hier alle aufgenommen.“ Und: „Du musst nicht weit fahren, um die ganze Welt zu treffen.“ Das mit der ganzen Welt funktioniert natürlich nur, weil der Lutterbeker eine Dorfkneipe und so viel mehr als eine Dorfkneipe ist. Die täglichen Gäste kommen aus einem Umkreis von hundert Kilometern, die Künstlerinnen und Künstler von überall.
Als Kneipenbesucherin hatte ich mich immer mal gewundert, in welcher Ecke denn hier wohl die Tische weggeräumt würden, um Platz für eine Bühne zu schaffen. Die bis dahin übersehene Tür zum Saal öffnete sich mir kürzlich das erste Mal als dort der Lutterbeker-Film gezeigt wurde. Coronabedingt sehr viel Platz für sehr wenige Zuschauer*innen. Unter normalen Umständen ist der Saal rappelvoll, die erste Reihe sitzt mit den Knien direkt vor der Bühne und guckt den Kunstschaffenden in Ausschnitte und Nasenlöcher.
Experte für alles
Die mögen diese Unmittelbarkeit und die besondere Atmosphäre. Wolfgang hat sich über die Jahrzehnte zu einem Experten für alles entwickelt und steuert aus seinem kleinen fensterlosen Kabuff neben der Bühne auch die gesamte Veranstaltungstechnik. Licht, Ton und sechs Kameras für den Videomitschnitt. „Die Akustik hängt damit zusammen, dass das alles Holz ist. Der Fußboden ist auf Holzbalken aufgebaut, die Decke ist eine Holzbalkendecke, die Wände sind Fachwerk. Wenn der Raum durch Musik erregt wird, wackeln überall die Balken und das ist wunderschön“, schwärmt er.
Gerburg Jahnke trat 1993 das erste Mal im Lutterbeker auf, damals noch als Teil der legendären „Missfits“. Strupp, die fürs Programm zuständig ist und dabei strenge Qualitätskriterien anlegt, war von den Missfits begeistert und schickte Wolfgang, der damals aussah wie Mick Jagger, als Lockvogel vor. Hat funktioniert. Die Oberhausenerin erzählt im Film, was sie an der Bühne im Lutterbeker schätzt: „Es ist alles viel poröser, viel offener. Das Publikum ist gigantisch.“
Wer es hier schafft, schafft es überall
Die Umstände sind durchaus speziell: „Man kann mit sehr wenig Licht wunderschöne Bilder inszenieren. Das heißt, du machst ne Lampe an und das Licht ist sofort da. Es muss nicht erstmal zwölf Meter zurücklegen bis es dich zufällig trifft. Hier im Lutterbeker hast du es mit vierzig Grad am Hinterkopf.“ Es geht auch mal was schief und es wird auch mal improvisiert. Hajo Sommers: „Hömma, auf ner Bühne, wo alles stimmt, wo das Licht stimmt, der Ton stimmt, es keinen Kurzen gibt, kein Licht ausfällt, es nicht reinregnet, nix umkippt, wo alles einfach da ist – das kann jeder. Das ist hier schon was für die Härteren unter den Kulturschaffenden. Wenn du den Lutterbeker überlebt hast auf der Bühne, dann kannst du überall spielen. Überall.“
Für die Sängerin und Moderatorin Ina Müller war der Lutterbeker eine Art Brutstätte. In Linn Marx’ Film erzählt sie, dass ihr ehemaliges Duo „Queen Bee“ aus diesem Ort hervorgegangen ist: „Hier konnte man im Haus essen, schlafen, proben und die Premiere machen.“ 45 Jahre Lutterbeker – Die Liste der Künstlerinnen und Künstler der verschiedensten Sparten und Stilrichtungen ist schier unendlich. An dieser Stelle nur ein paar wenige Namen: Tim Fischer, Georgette Dee, Cora Frost, Dirk Bach, Malediva, Bodo Wartke, Heinrich Pachl, Arnulf Rating, Ingo Appelt und Mathias Beltz. Wer mehr wissen will, sollte sich den Film anschauen oder vorbeikommen, wenn es hoffentlich bald wieder möglich ist. In diesen Wochen wären zum Beispiel Christine Prayon, Pigor und Eichhorn, Fee Badenius und Ingo Oschmann im Lutterbeker aufgetreten. Aus den bekannten Gründen fällt zurzeit alles aus.
Jurte und Bauwagen
In dieses kleine Dorf am Rand der Republik kommen nicht nur Solokünstler*innen, sondern manchmal richtig große Gruppen. Bands und sowas. Wohin mit denen, wenn der Auftritt vorbei ist? Die müssen ja irgendwo schlafen. Familie Marx hat in der oberen Etage innerhalb der eigenen Wohnung gleich mehrere wunderschöne, einladend eingerichtete Gästezimmer. In der halben Wohnung tobt das pralle Leben, jede Ecke hat ihren eigenen Charakter. Die andere Hälfte steht stets für Gäste bereit.
Wenn die Gästezimmer nicht reichen oder der Besuch es etwas ruhiger mag, kommt er in den riesigen Garten. Dort stehen eine Jurte als Lager für alles, für das im Haus kein Platz ist, viele Bäume und drei imposante hölzerne Bauwagen, die Wolfgang zu zauberhaften Schlafräumen ausgebaut hat. Hätte ich selbst Fotos vom Haus, dem Garten und den Bauwagen gemacht, liefe ich jetzt immer noch dort herum, um nur einen Bruchteil von dem Leben einzufangen, das Strupp und Wolfgang diesem Ort geschenkt haben.
Gejagtes und Gesammeltes
Viel Platz für viele Leute. Und dann gibt es auch noch die drei Appartements. Anders als die Bauwagen kann die jeder mieten, sechzig bis achtzig Euro pro Nacht. Manchmal wohnen Gerburg Jahnke und Hajo Sommers oder Ina Müller dort. In Linns Film beschreibt Gerburg Jahnke die Appartements so: „Das sind nicht einfach Wohnungen, das sind Philosophien. Wolfgang hat diese Appartements aus ganz vielen Elementen und Bauresten zusammengepuzzelt, die er in Abbruchhöfen gesammelt hat. Wolfgang ist ein Jäger, Sammler und Wiederverwerter. Das heißt, die Notwendigkeiten richten sich nicht nach einem Architektenplan, sondern die richten sich danach: Diese Tür muss in dieses Bad. Weil die Tür so geil ist. Und dann wird das ganze Appartement um die Tür herumgebaut.“
Dass diese raumgewordenen Kunstwerke nicht ganzjährig ausgebucht sind, liegt vermutlich daran, dass der Lutterbeker weitgehend analog unterwegs ist und das Digitale nur langsam Einzug hält. Auf irgendwelchen Buchungsplattformen im Internet findet man ihn jedenfalls nicht.
Das Coronajahr 2020 hat auch dem Lutterbeker ordentlich zugesetzt. Die finanzielle Situation war immer schon ein Seiltanz, wie es jetzt weitergeht ist offen. Linn: „Wir wissen nicht, ob wir das schaffen.“ Strupp sagt im Film: „Katastrophenmanagement, das ist mein Leben. Das ging 1975 los, kein Geld, viele Leute, viele Meinungen und alles musste irgendwie gemacht werden. Und das zieht sich eigentlich hin bis heute.“
Kein Antragsbeauftragter
Sich um Förderung zu kümmern ist sehr zäh und aufwändig. Dabei wäre gerade im Moment schnelle, unbürokratische Hilfe wichtig. „Wir haben hier schließlich keinen Antragsbeauftragten.“ Selbsthilfe ist gefragt. Wie alle anderen Kneipen und Restaurants ist der Laden im Moment zu, es gibt aber Außer-Haus-Verkauf. Die Jubiläumsveranstaltungen sind verschoben. Wenn der Lockdown vorbei ist, findet eine Versteigerung von Gejagtem und Gesammeltem statt. Da dann voraussichtlich weiter nur um die dreißig Besucher*innen im Saal erlaubt sein werden, experimentiert Familie Marx derzeit mit Livestreams, um mehr Leuten das Mitbieten zu ermöglichen.
Die Zukunft war immer schon offen, im Moment mehr denn je. Strupp und Wolfgang sind heute über siebzig und halten trotz allem den Laden gemeinsam mit Linn und anderen helfenden Händen am Laufen. Schon vor Corona gehörten Improvisationsgeschick und Durchhaltevermögen zu den Kernkompetenzen von Familie Marx. Im Film erklärt Strupp es so: „Wir konnten uns nie zurücklehnen und konnten nie sagen, so, jetzt haben wir’s geschafft. Wir haben es nie geschafft. Dadurch müssen wir uns immer neue Sachen überlegen und dadurch geht es immer weiter.“
Wie war das nochmal mit den Träumen? Wolfgang: „Unser Leben ist bestimmt durch das, was wir hier machen. Wir sind richtige Lutterbeker. Auch in dem Sinne, dass wir das, genauso wie es ist, wollen und nicht von ganz was anderem träumen. Wir wollten genau das machen.“
analog & digital
Öffnungszeiten
dienstags bis sonntags
17 bis 23 Uhr
Fladen, Pizzen, Suppen
Dorfstraße 11, 24235 Lutterbek
Tel. 04343.9442
Im Netz
Aktuelles Programm, Neuigkeiten usw. hier:
Homepage: lutterbeker.de
Der Lutterbeker bei Facebook
Lutterbeker – Der Film
Auf Anfrage an linn@lutterbeker.de ist die DVD im mp4-Format erhältlich (20 Euro).
Fotos: Der Lutterbeker