Bodydragqueen, oder: Die nicht mit dem Drachen tanzt

Am letzten Wochenende war es endlich so weit. Nachdem der Kite-Kurs mehrfach ausfallen musste – mal wehte der Wind falschrum, mal gar nicht -, sollte ich nun in die Kunst dieses Wassersports eingeweiht werden. Eines Sports, der die Ausübenden oft jauchzen lässt, so dass eine vom Strand aus Zuschauende wie ich erst neidisch, dann neugierig und schließlich von vielen Seiten gewarnt wurde. Gefährlich sei es, Unfälle gebe es. Guckt man in der Ecosia-Bildersuche nach „Kitesurfing“ lässt sich nicht verhehlen, dass ich eher nicht zur Zielgruppe zähle.

Kite-Kurs Lektion 1: Einfach mal loslassen

Weil solche Einwände Aussicht auf Abenteuer und Input für diesen Blog versprechen und weil ich eher ein Angsthase bin, mache ich es erst recht. Vor vielen Jahren brachte ich mehrfach ganze Wandergruppen mit meiner Totalverweigerung vor harmlosen Hindernissen gegen mich auf. Künftig nur noch zu kegeln oder mich im Keller zu verstecken, kam nicht in Frage. Dann doch lieber kiten. Wasser hat bekanntlich keine Balken. Was sollte also passieren?

Tatort Hawaii

Kurz vor elf kam ich an der Surfschule an. „Tatort Hawaii“ am Strand in Stein ist ein beliebter Treffpunkt und poetischerweise steht genau hier das Ferienhaus, in dem ich Mitte März morgens um sechs erwachte und wusste, sobald ich wieder im Ruhrgebiet bin, werde ich meine Wohnung dort kündigen. Vier Leute wollten an diesem Tag Level 1 erklimmen, außer mir eine zierliche Mittzwanzigerin und zwei Männer, die mehr als doppelt so alt und schwer schienen. Dann kam Kitelehrer Marius. Typ Dampferkapitän, drahtig, mit dichtem rotem Vollbart, Strickmütze und im normalen Leben u.a. Industriekletterer. Wer noch fehlte, war der Wind.

Wir begannen mit der Theorie. Schirm auswickeln, aufpumpen, in Parkposition bringen. Leinen abwickeln und kämmen, Geschirr – Trapez! – anlegen. Mit Haken, Ösen und Knoten wurden die Leinen am Kite befestigt und fünfundzwanzig Meter weiter am Kiter. Wir übten mit der dreifachen Sicherung umzugehen – ritsch, ratsch, klick, klack und zack – und anschließend alles wieder zusammenzustöpseln. Schon als ich damals meinen Führerschein machte, war die Theorie nicht das Problem.

Als ein wenig Wind aufkam, gingen wir in die Umkleide und bekamen einen Neoprenanzug, kurz: Neo, in die Hand gedrückt. Ich erinnerte mich an meinen ersten Kontakt mit einem Neo vor einem Jahr und wollte mir selbst meine Lernfähigkeit beweisen. Arme, Beine und Mittelteil auf rechts ziehen, Reißverschluss nach hinten. Mir kam der schwarze Schlauch ein wenig zu schmal vor. „Der muss eng sitzen, sonst wärmt er nicht richtig“, meinte Marius. Da das Wasser jetzt schon deutlich kühler wurde, wäre Gewärmtwerden nicht schlecht. Ich hatte schon Schwierigkeiten, die Füße unten durch den dicken, feuchten Stoff zu quetschen. Wie sollte es wohl obenrum funktionieren? Nein, der Neo dehnte sich nicht. Überhaupt nicht. Er presste stattdessen mich um ein bis zwei Konfektionsgrößen zusammen. Leider nur für die Dauer des Tragens. Es blieb also zunächst nicht viel von mir übrig, das hätte frieren können.

Windel mit Griff

Meine grazile Mitschülerin war erheblich schneller in den Schlauch geschlüpft als ich. Ich wollte ihren rückwärtigen Reißverschluss schließen und wunderte mich über die außen baumelnden Pflegehinweise. Es vergingen einige Sekunden bis ich begriff, dass das wohl auch der Grund war, warum bei ihr vorne „Inside Front“ draufstand. Einen kurzen Augenblick fühlte ich mich nicht mehr ganz so allein.

Der Zweite von links war’s.

Obenrum kam noch eine Schwimmweste über die zweite Haut, untenrum das Trapez. Ein anderes Modell als bei der Theorie. Kein Gürtel, sondern eine Art Windel mit Griff hintendran. Immerhin war das ganze Outfit schwarz, so dass man wenigstens von vorne – obendrauf kam noch ein Helm – aussah wie entfernte Verwandtschaft der GSG 9 und nicht wie einer forensischen Klinik entflohen. Nachdem Marius alle Schlaufen und Verschlüsse geprüft und mit einem ordentlichen Ruck nachgezogen hatte, waren wir dann soweit. Ich bekam nicht nur keine Luft, sondern bewegte mich in dieser Michelinmännchenmontur ungefähr so frei und flink wie Neil Armstrong bei seinem Mondbesuch. Wir schnappten uns Schirme, Board und alles andere und liefen zum Strand. Barfuß. Och ja, ganz schön kalt geworden, das Wasser. Im Neo schien es erstmal aushaltbar.

Das Red-Bull-Syndrom

Der Drachen, so die deutsche Übersetzung für „Kite“, wird immer im Wasser gestartet. Starten Leute an Land, können fiese Unfälle passieren, weil vier fünfundzwanzig Meter lange Leinen viel Verhedder- und Schredderpotenzial bieten, wenn sie auf Spannung sind. Also: nicht tun. Niemals. Weitere Unfallgefahren lauern bei Leichtsinn, Selbstüberschätzung und Red-Bull-Syndrom, also hochfliegendem Testosteron mit Helmkamera, erklärte Marius. Wie bei Hunden kommt es immer drauf an, wer am anderen Ende der Leine ist. Er selbst mag es durchaus auch rasant. Bei dem wenigen Wind, der gerade blies, würde er selbst nicht rausfahren. Ich schon. Mir würde es völlig reichen, wenn der Kite gerade eben oben bleibt und mich ein bisschen spazieren fährt. „Schönwetterkiter“ sind das.

Das bisschen Wind kam von vorne links – Nordwest -, daher platzierten wir die Flugmatte* quer dazu, um einen sanften Start zu schaffen. Wer es rabiater mag, legt den Schirm mitten ins Windfenster. Das nennt sich dann „Russenstart“. Sanft gefiel mir und ich wollte mir bei den anderen erstmal alles in Ruhe anschauen. Gerade als ich anfing mich zu entspannen, hakte Marius mich an den Schirm und drückte mir die Lenkstange – Bar! – in die Hand. Ausgerechnet. „Du weißt ja, lenken wie beim Fahrrad oder beim Chopper, und wenn irgendwas ist, einfach die Bar loslassen.“ Die Bar ganz locker zu lassen ist der Normalzustand beim Kiten und sie ganz loszulassen die erste der drei Sicherheitsstufen. Dadurch sind nur noch die beiden mittleren Leinen, die mich mit dem Schirm verbinden, auf Spannung und die beiden Lenkleinen hängen locker an den Seiten. Theoretisch hatte ich’s voll kapiert.

Kite am Kipppunkt

Tubekite in Parkposition

Die Flugmatte erhob sich gen Himmel, blieb ein paar Sekunden stehen und drehte ein wenig nach rechts. Ich wusste, was ich nun zu tun hatte: Gegenlenken. Sanft gegenlenken. Ich drehte vorsichtig an der Bar und der Schirm glitt weiter nach rechts. Falsche Richtung. „Nicht wie beim Auto, sondern so“, sagte Marius und deutete das Lenken des Choppers nach links an. Zu spät. Der Kite war über den Kipppunkt. Wenn irgendwas ist: einfach loslassen. Loslassen!! Ich krallte mich an die Bar und zog sie zu mir hin. Die Matte fiel aufs Wasser. Ich auch. Mit einem heftigen Ruck zog sie mich nach vorne. Gerade noch hüfttief im Wasser stehend, platschte ich zwei Meter weiter der Länge nach in die kühle Ostsee. Immerhin: der Neo hielt dicht.

Neuer Versuch. Starten, hochgucken, gegenlenken, an die Bar klammern. Platsch. Am Anfang, wenn man ohne Board im Wasser stehend übt den Drachen zu bändigen, wird man zu Stabilisierungszwecken festgehalten. Dafür ist hinten der Griff am Trapez. Lässt man die Bar im richtigen Moment los, klappt das auch. Das leuchtete mir in der Theorie vollkommen ein und bei den anderen funktionierte es auch ganz praktisch. Sie blieben nicht nur stehen, sogar die Matte blieb in der Luft. Wir wechselten ein paarmal durch und holten dann den zweiten Kite dazu. Die Mittzwanzigerin hantierte mit der Lenkstange als wäre sie mit der Harley zum Kitekurs gekommen. Sie schien fast gar nichts zu tun und ihr Drache tanzte wendig im Wind. Zu meiner Ehrenrettung sei gesagt, dass sie Windsurferin und Profitänzerin ist und ich aus Dortmund komme.

Strand in Stein

Ich platschte so oft ruckartig ins Wasser, dass es irgendwann an den Händen ein bisschen blutete. Erst abends, als das Adrenalin wieder auf Normalniveau war, spürte ich die lädierten Fingerknöchel. Vielleicht war ich irgendwo über Steine gerutscht, gemerkt hatte ich davon nichts. Nicht lenken wie beim Auto und einfach mal loslassen. Wie im richtigen Leben tut’s schon mal ein bisschen weh, wenn aus Theorie Praxis werden soll. Uuund: platsch. Mit Schwimmweste und in voller Montur war es gar nicht so leicht mich immer wieder aufzurichten. Ich fühlte mich wie eine Robbe an Land, nur nicht so niedlich. Sie zogen an meinem Griff, ich drehte mich um die eigene Achse und warf mich dem totalen Kontrollverlust entgegen. Am Schluss, der Wind wehte inzwischen ein bisschen ambitionierter, hat mein Drache tatsächlich ein paarmal die Kurve gekriegt und kippte dann erst aufs Wasser. Mir erschien es einigermaßen windig, für Marius war es „unterhalb von moderat“. Für den späteren Nachmittag war nahezu stürmischer Wind vorhergesagt, bis dahin sollten wir im Trockenen und er auf seinem Board sein.

SUP statt Drachenbändigung

Nach gut drei Stunden war die Zeit für die zweite Lektion gekommen. Bodydrags. Dabei lässt man sich vom fallenden Kite in Bauchlage durchs Wasser ziehen.
Moment mal.
„Das mache ich doch schon die ganze Zeit!“
„Äh, ja, und nun wollen wir es kontrolliert üben.“ Marius übte sich in Geduld.
Mittlerweile war ich violettgefroren und vom langen Waten im Wasser ermattet. So strich ich die Segel und schleppte mich in die Umkleide. Jetzt erstmal ein Bier und ein Fischbrötchen. Ich hatte einen Sonnenbrand und im Mittelgebirge war der erste Schnee gefallen.

Matjes, yes!

Vielleicht sollte ich das mit dem Kegeln doch mal probieren? Andere Leute in meinem Alter sind damit sehr zufrieden. Auch Stehpaddeln soll voll toll sein. Nach Fischbrötchen und Bier war die Antwort klar: Niemals. Jedenfalls nicht, bevor ich hundert bin. Schließlich haben mich Wasser und Wind in den Norden gezogen. Wenn es stimmt, was Marius erklärte – „Neunzig Prozent macht die Beherrschung des Kites aus, zehn Prozent das Fahren auf dem Board“ -, reicht es vielleicht, den Lehrplan etwas anzupassen. Lektion 0: Einen sehr kleinen Lenkdrachen auf dem Deich in der Luft halten. Lektion 1.1: Die Bar loslassen. Lektion 1.2: Die Bar wirklich loslassen. Lektion 1.3: Einfach alles loslassen. Lektion 1.4: Chopper fahren. Lektion 1.5: Mit dem Drachen tanzen.

Und in einem Jahr fahre ich auf dem Board eine klitzekleine Runde spazieren.
Ich, die Bodydragqueen, die aus dem Potte kam.

* Die Luftkammern von Flugmatten oder Softkites füllen sich beim Start durch Schlitze mit Luft. Sie sind reaktionsträger als die bereits an Land aufgepumpten Tubekites, also anfängeraffin.

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