Nicht nur regionales Fallobst

Musiker beim Klimastreik am 20. September in Bochum

Klimastreiks am 20. September

Meine persönliche Demobiografie verläuft parallel zu den letzten Jahrzehnten Weltgeschichte. Sie begann Anfang der achtziger Jahre des letzten Jahrhunderts vor Woolworth in Dorsten. Nicht viel mehr als ein Dutzend Althippies stellten sich dort einmal in der Woche eine Stunde im Halbkreis um den vertrockneten Brunnen und schwiegen für den Frieden. Meine beste Freundin und ich gesellten uns dazu. Weil es mir ein wenig peinlich war, habe ich die meiste Zeit auf den Boden geschaut. Ein Stück Selbstüberwindung gehörte schon damals dazu, wenn man eine von den Guten sein wollte. Wäre es nach mir gegangen, hätte ich bereits 1981 im Bonner Hofgarten mit 300.000 anderen Friedensbewegten demonstriert. Es war Samstag, ich zwölf und hatte vier Stunden Unterricht. „Die Schule geht vor. Keine Diskussion.“ Dieses Diktat meiner Eltern brachte mich um ein biografisches Highlight und führte zu einem ersten pubertären Zerwürfnis.

„Miethaie zu Fischstäbchen“

Knapp zehn Jahre später begann mein Studium und direkt im Wintersemester 1990/91 fand die erste Demo statt. Gegen Wohnungsnot. Die heutige Umweltministerin Svenja Schulze war unsere AStA-Vorsitzende und lief mit Megaphon vorneweg. Am Ende standen wir alle vor irgendeiner Baustelle im Matsch und skandierten gemeinsam „Miethaie zu Fischstäbchen“. Nur wenig später ging es um den Zweiten Golfkrieg. Eine Spontandemo von der Uni aus endete auf dem Bochumer Innenstadtring, wo wir den gesamten Verkehr lahmlegten. Ich erinnere mich immer wieder gern an die lebhaften Diskussionen mit den aufgebrachten Autofahrern, die aus meiner Sicht die falschen Prioritäten setzten. Die Zeit des Gehorchens war vorbei.

Die rassistischen Ausschreitungen in Hoyerswerda und die Morde in Mölln und Solingen führten an der Hochschule zu einer Debatte über Protest- und Gedenkformen. Sind Lichterketten die richtige Antwort auf Nazis? Wie breit darf oder sollte ein gesellschaftliches Bündnis gegen Rechts sein? Wollen wir gemeinsam mit denen auf die Straße gehen, die aus unserer Sicht eine Mitverantwortung an der aufgeheizten Stimmung gegen Flüchtlinge und AusländerInnen – so das damalige Vokabular – tragen? Wo ist die Grenze?

Die Jahre brachten noch diverse Demos mit sich. Gegen Krieg, gegen die Verschärfung des Asylrechts, gegen Hartz IV, gegen Nazis. Die gesellschaftlichen Grundfragen – Auf welche gemeinsamen Werte und Ziele verständigen wir uns und wie wollen wir sie umsetzen? – werden jeder Generation neu vor die Tür gekippt und verlangen nach Aushandlung. Das betrifft den Umgang mit rechten Parteien ebenso wie den Klimawandel.

Kleinster gemeinsamer Nenner

Man demonstrierte in der Regel gegen etwas. Auf der Suche nach Bündnispartner*innen, damit man nicht alleine im Regen steht, war der gemeinsame Gegner meist der kleinste gemeinsame Nenner. Sobald es darum ging auszuloten, was denn ein gemeinsames Wofür und Wohin sein könnte, war es schnell vorbei mit der Einigkeit. Zwei Menschen, drei Interessen, vier Meinungen. Hier haben Beziehungen und Demokratie etwas gemeinsam: Sie sind kompliziert und unübersichtlich. Wenn ich nicht aktiv versuche, Teil der Lösung zu sein, bin ich automatisch Teil des Problems und das Projekt fährt gegen die Wand. Es könnte alles so schön sein, wenn du dir ein wenig Mühe geben würdest. Wir könnten so weitermachen wie bisher, wenn die Chinesen endlich weniger Dreck machen würden.

In den letzten Jahren haben mich Demos gegen X oder gegen Y nicht mehr hinterm Ofen hervorgelockt. Plötzlich tauchte Greta Thunberg auf und war der Anfang von etwas, das offenbar nur darauf gewartet hat, sich endlich zeigen zu können. Fridays for Future und die weltweiten Klimastreiks am 20. September sind Ausdruck eines kollektiven Bewusstseinsfortschritts. Dass so mancher alte weiße Mann die junge Bewegung verhöhnt und beschimpft, ist ein selbstentlarvender Beleg dafür, dass FFF auf dem richtigen Weg ist. Immer mehr Menschen scheinen zu erkennen, dass es auch auf sie ganz persönlich ankommt. Es ist nicht egal, was sie sagen, was sie tun, wofür sie ihr Geld ausgeben und wen sie wählen. Sie sehen ihre eigene Verantwortung und nehmen sich selbst in die Pflicht, ihren Beitrag zu leisten. Die eine isst vegan, der andere steigt vom Auto aufs Fahrrad um, die nächste kauft statt ständig neuer Klamotten nun Secondhand, andere fliegen weniger oder gar nicht mehr. Kinder belehren ihre Eltern, dass Tiere nicht auf den Teller gehören und dass Plastik schlecht für die Umwelt ist.

Eigenverantwortung

Die eigene Verantwortung wahr- und Politik in die Pflicht nehmen. Der letzte Freitag war ein mutmachendes Indiz dafür, dass unsere Demokratie noch ziemlich lebendig ist und vielleicht sogar in eine ganz neue Phase eintritt. Die breite Enttäuschung über das in weiten Teilen zu zaghafte Klimaschutzpaket der Bundesregierung, das am selben Tag verkündet wurde, zeigt – das interpretiert jedenfalls mein hartnäckiger Optimismus -, dass von Politik heute mehr erwartet wird als das Unvermeidbare zu verwalten und nur ja niemandem weh zu tun. Vor mehr als zwanzig Jahren sind wir bereits für einen sozial-ökologischen Umbau auf die Straße gegangen. Im Vorfeld der Bundestagswahlen 1998, nach sechzehn ermüdenden Kohl-Jahren, gab es eine große Sehnsucht nach neuen Antworten. Es folgten Schröder, Rotgrün, Hartz IV und bittere Enttäuschungen, von denen die SPD sich nie erholt hat.

Letzten Freitag waren allein in Deutschland 1,4 Millionen Menschen auf der Straße, in Bochum 12.000, ganz junge, ganz alte und alles dazwischen, Mütter mit Kinderwagen, Schulklassen, Althippies und Nachwuchsaktivist*innen. Auf dem Südring hielten zehn Grundschulkinder, die kaum über die Straßenabsperrung gucken konnten, Schilder in die Höhe. Zwei Mädchen, nicht größer als einsdreißig, hatten sich bunt bemalte Kartons übergestreift, liefen inmitten der Erwachsenen und skandierten mit hellen Stimmen „Wir sind hier, wir sind laut, weil ihr uns die Zukunft klaut“. Ich habe ehemalige Demoweggefährten wiedergetroffen, die ich fünfzehn, zwanzig Jahre nicht gesehen hatte, und mir lief sogar ein Facebook-Freund erstmals persönlich über den Weg. Die erste große Veranstaltung nach sehr langer Zeit, bei der die Teilnahme eine Selbstverständlichkeit war.

Avocados und Elektroautos

Da dieser Text die Kurve zur Komik nun wohl nicht mehr kriegen wird, kann er getrost mit dem Kategorischen Imperativ enden. Erinnert sich noch jemand an das grundlegende Prinzip der Ethik von Immanuel Kant? „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“ In unserer komplexen Welt etwas „Richtiges“ zu tun, ist gar nicht so einfach. Avocados sind zwar vegan, aber verbrauchen extrem viel Wasser. Elektroautos sind auf dem Vormarsch, aber was ist mit den seltenen Rohstoffen in den Batterien und der Kinderarbeit in Afrika? Fliegen ist blöd, aber was von der Welt zu sehen, erweitert den eigenen Geist. Wer will schon immer nur Zuhause sitzen und sich von regionalem Fallobst ernähren? Wer lebt, hinterlässt Spuren, so oder so.

Sich zuerst an die eigene Nase fassen und es nicht dabei belassen. Bereits Anfang der 1990er Jahre gelangte ich nach Abwägung aller Argumente zu folgender Analyse der Weltlage: Alles hängt mit allem zusammen. Treffender könnte ich es auch heute nicht formulieren. Es liegt an uns, daraus etwas Gutes oder sagen wir: unter den gegebenen Umständen wenigstens einigermaßen Ordentliches zu machen. Trotz alledem.

 
 

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