Kuchenteig

Wie mache ich aus mir eine Persönlichkeit

In wenigen Tagen wird es soweit sein, dass mein Alter mit Mitte vierzig nicht mehr wirklich korrekt umschrieben ist. Schon seit einiger Zeit häufen sich in meinem Umfeld Fälle von Unpässlichkeit, Krankheit und Unlust. Altersteilzeit gerät in den Fokus und es werden Überlegungen ventiliert, wie die aktuellen Beschwerden sich möglicherweise zu einer Frühverrentung potenzieren lassen. Dabei sind immer mehr Menschen um die fünfzig gerade einmal in der Mitte ihres Leben angekommen. Mittendrin und schon vorbei? In nicht wenigen Facebook-Profilen finden sich regelmäßig dramatisch dekorierte Sprüche wie „Hilfe, schon wieder Montag“, „Im Leben musst du oft kämpfen. Manchmal solltest du aber aufgeben und loslassen, als an dem Kampf kaputt zu gehen“ (sic!) und „Den meisten Menschen ist es egal wie es dir wirklich geht, hauptsache du funktionierst“. Wollen mich Facebook-Freunde mit derlei Gemütsverfassungen infizieren, radiere ich ihre Neuigkeiten sofort von meiner Timeline. Wenn ich mir die Laune verderben will, lese ich richtige Nachrichten.

In der Generation meiner Eltern sind die Verhältnisse noch klar. Wann die Fenster zu putzen sind, steht im Kalender, der Vorgarten hat so auszusehen, dass er adretter ist als der der Nachbarn und wenn es innerfamiliäre Irritationen gibt, macht man schön zuerst die Türen zu und dann Augen und Ohren. So lange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, tust du, was ich dir sage. Ende der Diskussion. Zu Feiern laden die inzwischen alten Herrschaften immer noch Leute ein, die sie nicht leiden können, weil sich das eben so gehört. Das ist so, weil es so ist und weil es immer schon so war. Das heißt nicht, dass es schön sein muss. Muss es nicht. Gewicht hat, dass es auch für schlichte Gemüter leicht verständlich und verlässlich ist. Was sich gehört und was sich nicht gehört, variiert von Familie zu Familie. Erwartet wird allerdings, dass sich alle jeweils Angehörigen an die ungeschriebenen Gesetze halten. Wo kämen wir denn hin, wenn jeder machen würde, was er will? Gute Frage.

Zwischen Nachkrieg und Postfaktizität

War es bis in die siebziger, achtziger Jahre durchaus noch normal, dass die Definitionshoheit von Normalität dem Familienoberhaupt oblag, blieb in den Jahrzehnten danach kein Stein mehr auf dem anderen. Wer heute zwischen Mitte vierzig und Mitte fünfzig ist, mag sich ebenso wünschen, dass alles einfach und sicher ist. Isses aber nicht. Ob wir wollen oder nicht, wir stecken mittendrin. Zwischen Jung und Alt, zwischen Nachkrieg und Postfaktizität, zwischen Kittelschürze mit Zuckerbrot und digitalen Nomaden mit coolen Tools für echt fette Learnings.

Heute ist alles da. Alles gleichzeitig. Alles nebeneinander. Ich kann wählen. Wo ich lebe, womit ich mein Geld verdiene, welche Freunde ich habe, welche Hobbys mir Spaß machen, was ich essen möchte, wie ich aussehen will, womit ich meine Zeit verbringe. Jeden Tag treffe ich hunderte von Entscheidungen. Meistens merke ich davon nichts, weil es jeden Tag dieselben Entscheidungen sind. Aber manchmal ist die Qual der Wahl hautnah spürbar. Letztens wollte ich eine Mundspülung kaufen, damit meine Zähne noch gut fünfzig Jahre auf Zack bleiben. Der Drogeriemarkt offerierte mir nicht nur ein Dutzend verschiedener Marken, sondern auch zig verschiedene Farben und Geschmacksrichtungen. Nach einer Viertelstunde hatte ich mich für die Hausmarke in der Variante Rot entschieden, damit die Flasche farblich zum Badezimmer passt. Beim Haarspray entscheide ich auch nach Farbe. Der feine Unterschied ist, dass beim Haarspray nur die Blechdose rot ist, bei der Mundspülung ist es der Inhalt selbst. Angepriesen als Kirscharoma stellte sich die Flüssigkeit als Gummibärchenkonzentrat heraus, das den vorausgehenden Akt des Zähneputzens überflüssig schmecken lässt. Was es, sapperlot, noch nicht gibt: Rote Mundspülung mit Minzgeschmack. Würde ich danach googeln, fände ich sie vermutlich doch irgendwo in China, lieferbar innerhalb von vier Wochen über Amazon.
In den siebziger Jahren gab es Odol.

Anna aß Ananas

Dann gibt es natürlich Wahlmöglichkeiten und Entscheidungen, die komplexer und von größerer Tragweite sind. Zum Beispiel die für den eigenen Beruf. Ich habe mein Geld, seit ich knapp zwanzig war, eigentlich immer mit Schreiben verdient. Buchstaben, Sätze, Absätze, Seiten, Kapitel, Themen, Inhalte, Zusammenhänge, Teaser und Headlines. Nur dreißig Buchstaben, aber unendliche viele Möglichkeiten, egal ob es um Demenz, Solarzellen oder Straßenstrich geht. Heinz Schneemann, mein Deutschlehrer in der fünften oder sechsten Klasse, hat mich einmal sehr gelobt, als ich aus Ernst Jandls „ottos mops kotzt“ „anna aß ananas. darf anna das? anna hasst das. …“ machte, also ein komplettes Gedicht aus nur einem Vokal schnitzte. Wie Millionen andere Kinder auch, die mit Konkreter Poesie konfrontiert wurden. Seitdem glaubte ich, ein besonders inniges Verhältnis zu Sprache zu haben. Mit den Jahren habe ich tausende von Texten zusammengeklöppelt. Manchmal dauert es heute noch eine halbe Stunde, bis ein Satz richtig sitzt. Der Hang zu Assonanzen und Alliterationen ist mir erhalten geblieben. Doch so manches Mal verfluche ich den leeren Bildschirm, den Auftrag, es allen recht machen zu sollen, und mein Hirn, in dem es munter durcheinander schnattert. Nimm mich, quengelt das F, nein mich, quatscht das U dazwischen, nun bin ich aber mal dran, blafft das C, halt’s Maul und stell dich hinten an, schnauzt das K.

Nach so langer Zeit, die die Buchstaben und ich nun schon miteinander verbracht haben, und so langer Zeit, die vielleicht noch vor mir liegt, stellte sich mir vor anderthalb Jahren die Frage, ob ich wirklich so weitermachen will. Oder nicht. Und was dann. Anlass war die Kündigung eines damals für mich finanziell wichtigen Auftraggebers, über die ich im zweiten Augenblick sehr erleichtert war, weil ich selbst zu feige gewesen wäre, die schon länger nicht mehr erquickliche Zusammenarbeit zu beenden. Der Spatz in der Hand ist besser als die Flausen im Kopf. Ein normales Leben in einer normalen Stadt. Millionen Menschen machen das so und Millionen andere wären froh, wenn sie wenigstens ein normales Leben hätten. Ich aber verspürte Veränderungsbedarf. Da muss doch noch was kommen. Nur was? Es begann eine kurze euphorische Phase als Erfinderin. Ich hatte eine Idee, die sich nach genauerer Überlegung und Prüfung tatsächlich zunächst als neu, viel später als aus-guten-Gründen-nicht-auf-dem-Markt entpuppte. Es folgten Anwaltsbesuche, eine Patentanmeldung und mehrere durchaus gelungene Präsentationen vor namhaften Marktführern. Von denen ich danach nie wieder etwas gehört habe. Es war eine bemerkenswerte und lehrreiche Erfahrung. Das Lebensgefühl einer Erfinderin ist schon ein sehr anderes als das zu einer Schreibkraft verschraubten Schreiberin. Danach habe ich noch weitere nützliche Dinge erfunden, einfach weil sie mir einfielen. Zum Beispiel einen diebstahlsichereren Rucksack, der auf der Rück(en)seite geöffnet wird. Über meine Hirnzellen und ein paar Schmierzettel hinaus haben diese bahnbrechenden Innovationen es allerdings nicht geschafft.

Glücksgeheimnisse

Nun stand ich da. Großauftrag weg und Erfinden schien dann doch keine Ruhm und Reichtum verheißende Alternative zu sein. So entdeckte ich das weite Feld der Persönlichkeitsentwicklung. Bis dahin war mir gar nicht klar, dass das DER neue Shit ist. Dreißigjährige Jungs meditieren und erzählen in vielgehörten Podcasts und vielgeklickten Youtube-Videos, was die fünf bis zehn wichtigsten Glücks- und Erfolgsstrategien sind und wovor sie die größte Angst haben. Persönlichkeitsentwicklung klingt ungefähr so einladend wie Darmspiegelung. Als ich den ersten Fluchtreflex ausgesessen hatte, wurde ich neugierig, mit welchem Handwerkszeug sich die Profis für die richtige Mundspülung und den passenden Beruf entscheiden. Eine Gebrauchsanleitung fürs Leben, das wäre doch mal was.

So habe ich mich in den letzten Monaten einmal durch den unübersichtlichen Markt der Möglichkeiten gefräst und jede Glück und Erfolg versprechende Tür geöffnet, an der ich unterwegs vorbeikam. Von Westen nach Osten, von Lifecoaching und Motivationsrednern in Deutschland über Neurolinguistisches Programmieren bis zu buddhistischen Lehren. Mir sind nicht nur Rapport und Refraiming, sondern auch die Idee der Leerheit und mehrere innere Kinder begegnet. Meditation sowieso, das machen offenbar alle. Angeblich gibt es keinen „Leader“, der darauf verzichtet. Durch einige esoterische Türen, hinter denen Engel und Lichtarbeiter ihr Werk verrichten, habe ich auch einen Blick geworfen. Und natürlich plumpsten mir auf diesem Weg Unzählige vor die Füße, die im Internet versprechen, mir in nur drei Videos das Geheimnis von Glück und Erfolg zu offenbaren. Ich habe mein Gehirn mit derart vielen Büchern, Podcasts, Videos und Webinaren vollgestopft, dass es zwischendurch gern gekotzt hätte, um sich Erleichterung zu verschaffen. Aber mein Hirn und ich wissen schließlich, dass ein Hirn niemals voll werden kann.

Als ich klein war hatte mein Vater ein paar Eigenschaften, die das Zusammenleben manchmal unnötig erschwerten. Er war zum Beispiel notorisch unpünktlich. Von der vielleicht fünfjährigen Tochter dafür kritisiert, antwortete er stets: „Ich bin eben so.“ Da es an mich die Erwartung sozialverträglichen Wohlverhaltens gab und meine Veränderungsbereitschaft stets gefordert war, sagte ich dann ebenso regelmäßig: „Dann ändere dich doch.“ Seine Antwort als etwa Dreißigjähriger war immer die gleiche: „Dafür bin ich zu alt.“ Das habe ich schon als Fünfjährige nicht geglaubt. Inzwischen hat die moderne Hirnforschung meinen damaligen Glauben bestätigt. Ein mehr oder weniger gelungener Mix aus Genen und Erfahrung sorgt dafür, dass Menschen irgendwelche Eigenschaften haben. Alle Eigenschaften zusammen ergeben dann den eigenen Charakter, die Persönlichkeit. Ist jemand zum Beispiel arrogant, cholerisch und rechthaberisch, halten wir uns in der Regel lieber fern. Außer vielleicht, er ist besonders reich. Wenn jemand arrogant, cholerisch, rechthaberisch und arm ist, wäre es für ihn jedoch vermutlich nützlicher, ein wenig an der eigenen Persönlichkeit zu feilen, um kein einsames und tristes Dasein fristen zu müssen. Heute ist gut erforscht, dass das funktioniert. Menschen können sich bis ins hohe Alter verändern. Wenn ich mein Leben lang geizig war, entweder weil ich aus armen oder aus reichen oder aus durchschnittlichen Verhältnissen komme, kann ich auch mit fünfzig noch zu dem Schluss kommen, dass Geiz irgendwie uncool ist. Und fortan großzügig sein. Nahezu alle Eigenschaften sind veränderbar. Außer der Intelligenz. Na gut, arrangieren muss man sich immer.

Allefünfegeradeseingassen

Mein Alter zählt also nicht als Ausrede. In meinem ganz persönlichen Hirn gibt es eine dreispurige Autobahn für Pingeligkeit. Bevor ich in einem fremden Text irgendeinen Inhalt wahrnehme, sehe ich auf einen Meter Entfernung das Leerzeichen, das im dritten Absatz zu viel ist. Lägen in meiner Wohnung Teppiche mit Fransen, wären diese akkurat gekämmt. Selbst in meinem Keller ist alles ordentlich thematisch sortiert. Was ist das? Eine nützliche Eigenschaft? Ein nervige Eigenheit? Ich war einigermaßen erleichtert als mir klar wurde, dass das Kleinkarierte nicht als unüberschreibbare Information in meinen Genen hinterlegt ist. Genaugenommen ist es nur eine Angewohnheit. Ich mache es so, weil ich es schon immer so gemacht habe. Seither haben schludrige Bauarbeiten an den Allefünfegeradeseingassen begonnen. Hier ein paar Krümel, dort ein bisschen Staub. Einfach woanders hingucken und schon sammelt sich das erste Material für die neuen Trampelpfade im Hirn an.

Hirnforscher und Persönlichkeitsentwickler sind sich erfreulich einig: Das, was ich täglich tue, macht meine Persönlichkeit aus. Ganz so trivial ist es allerdings nicht in allen Fällen. Aus einer Quasselstrippe wird nicht plötzlich ein stummer Fisch. Warum auch. Aber wenn ich bisher zum Beispiel eine Dose Sauertopf, eine grobe beleidigte Leberwurst und eine Tube Tollpatsch aus dem Discounterregal ausgesucht habe, um mein Leben zusammenzurühren, kann ich es jederzeit mit einer Flasche Freundlichkeit und einem Schluck Neugier verdünnen und mit einer Prise Courage aus dem Delikatessenladen würzen.

Kopflose Riesenmaden

Die anfängliche Begeisterung für meine offenkundige Formbarkeit wich bald der Ernüchterung. Keine klare Perspektive und nun ist auch noch die Persönlichkeit weg. Welche der tausend möglichen Eigenschaften hätte ich denn gerne? Vielleicht hätte ich mich besser mit den Mundspülungsentscheidungen zufrieden geben sollen. Nun gibt es eine Handvoll neue Antworten und tausend neue Fragen. Wer bin ich, und wenn nicht, was dann? Was fange ich denn nun an mit einer Nichtmehrmittevierzigjährigen ohne Eigenschaften? In meiner Facebook-Timeline wimmelt es inzwischen von Coaches, Beratern und Motivatoren. Nur selten mogelt sich noch ein Trübsalblaser dazwischen. Die haben alle gut reden, diese dreißigjährigen, flotten, durchtrainierten Lebenskünstler.

So schlecht ist es auch nicht, sich auf dem Sofa zu räkeln und Dschungelcamp zu gucken. Schließlich ist es kalt, dunkel und regnet. Richtig Glück hatte ich eigentlich noch nie. Der Käse war heute schon wieder schimmelig. In dem Laden kaufe ich nicht mehr ein. Aber der nächste Supermarkt ist fünf Kilometer weg und dort ist die Kassiererin immer so schnippisch. Ob ich mich mal beschwere? Markus nimmt ein höheres Honorar als ich. Der ist ja auch ein Mann, dem zahlen sie das. Ob ich in meinem Alter noch mehr verlangen kann? Dann ist bestimmt der Auftrag weg. Den Kunden kann ich sowieso nicht leiden. Wenigstens muss ich nicht Riesenmaden den Kopf abbeißen, um dann ihren gelbglibberigen Körper zu essen.

Horrorfilm im Kopfkino. Kurz anknipsen und das Programm läuft wahlweise als Serie oder als Endlosschleife. Da ich Hirnforschern und Lifecoachingmotivatoren gleichermaßen zugetan bin, weiß ich inzwischen, dass ich in den Filmen in meinem Kopf gar nicht mitspielen muss. Zugucken, Schultern zucken, ausknipsen. Gedanken sind großartig. Sie sind immer da, bestimmen über unser komplettes Leben, aber noch nie hat jemand einen Gedanken gesehen, geschweige denn zu fassen bekommen. Sie sind genauso mächtig wie flüchtig. Gerade hatte ich noch eine Idee für ein neues weltweites Patent (wirklich!), eine halbe Sekunde später wird sie durch den Gedanken an die hüftschädigenden Kohlenhydrate in der Tiefkühlpizza unwiderbringlich verdrängt. Wer bestimmt eigentlich, was in meinem Kopf verhandelt wird? Gute Frage.

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