MIT ELFEN, GEIERHÄLSEN UND PLIÉ
Ich war eins dieser Kinder, das nie so recht irgendwo dazu gehörte. Diejenige, mit der man sich anfreundet, wenn man es sich mit den coolen Kids verscherzt hatte. Farblos, ein bisschen pummelig, Brille, Pferdegebiss, Second-Hand-Jungsklamotten und mit auf Mutters ausdrücklichen Wunsch an Mireille Mathieu angelehnter Topffrisur. Und dann auch noch unsportlich. Schon in der Grundschule war ich im Eckenrechnen einigermaßen konkurrenzfähig, im Sportunterricht hingegen offenbarte sich das Defizit, das mich bis heute begleiten sollte. Ich war diejenige, die vor den Bock prallte, weil sie sich nicht traute drüberzuspringen. Ich war diejenige, die später bei den Bundesjugendspielen für fünfzig Meter zwanzig Sekunden und für tausend Meter zwanzig Minuten brauchte, die die Kugel direkt vor sich in den Boden rammte und noch nicht einmal eine Siegerurkunde bekam. Und natürlich war ich diejenige, die in der Tanzschule mit vierzehn ähnlich wie mit sieben bei der Wahl zum Brennballteam übrig blieb. Der Grundstein für meine Selbstwahrnehmung als Bewegungslegasthenikerin war gelegt.
In den folgenden Jahren entwickelte ich diverse Tricks und Techniken, um dem Sportunterricht möglichst häufig zu entrinnen. Langwierige Menstruationsbeschwerden waren am effektivsten, weil die Lehrer nicht wagten, diese in Zweifel zu ziehen. Statt mit Bewegung rückte ich mir über viele Jahre mit sedierenden Dosen Nikotin zu Leibe. Wenn ich sowieso ein träges Trampel war und keine filigrane Elfe, dann soll dieser Körper doch sehen, was er davon hat. Mit Anfang dreißig habe ich gehustet wie ein kruppkranker Bergmann mit Asthma und Staublunge kurz vorm Exitus. Nein, das ist keine Übertreibung. Da mein Vater schon bei durchschnittlichem Zigarettenkonsum mit vierzig herzkrank frühverrentet wurde, stand ich eines Tages vor der Frage, in ein paar Jahren tot oder ein Pflegefall sein zu wollen oder mich mit diesem bis dahin regungslosen Körper irgendwie anzufreunden und etwas netter zu ihm zu sein. Ich begann mit dem Rauchen aufzuhören und zu joggen. Nach zähen zwei Jahren war ich endlich clean und immer noch die langsamste Joggerin im Bochumer Stadtpark, auf der Nordhalbkugel und vermutlich im gesamten Universum.
Natürlich war ich auch früher schon neidisch auf diese federleichten Elfen, diese Grazien, diese magersüchtigen Tanzmäuse und zierlichen Zicken, die sich bewegen konnten als hätten sie Gummi statt starrer Knochen unter ihren blassrosa Häuten. Als hätte der Himmel selbst sie ins Leben getupft. Das waren die, die beim Eckenrechnen immer zuerst rausgeflogen sind. Bewegliche Hüften machen noch lange keine flinken Synapsen. So kümmerte ich mich über die Jahre intensiv um mein Oberstübchen und fütterte es mit vielen, sehr, sehr vielen Informationen. Ich staune heute noch gelegentlich, was in den Tiefen meines Hirns alles abgespeichert ist und manchmal zum Vorschein kommt. Geschichtszahlen gehören nicht dazu. Dafür weiß ich, dass Heino eigentlich Heinz Georg Kramm heißt, Willy Brandt Herbert Frahm hieß und der richtige Name von Lenin Vladimir Ilyich Ulyanov war.
Vor einigen Jahren sah ich das erste Mal diese Sendung, äh, „Let‘s dance“. Auf diesem Ärrteeäll. Vor dem ersten Mal fragte ich mich immer, wer sowas wohl gucken sollte. Irgendwelche C-Promis, die Walzer tanzen. Gähn. Eines Tages geriet ich dennoch hinein und sah: Verklemmte, hüftsteife C-Promis, die tanzen lernten. Sie übten und übten und übten. Und bei einigen tat sich tatsächlich etwas. Die Hüften wurden lockerer, die Verklemmung wich Woche um Woche. Guck. Sowas kann man also lernen. Hätte mir das mal jemand vor dreißig Jahren verraten. Irgendwann habe ich dann gegoogelt. Contemporary Dortmund. Und bin fündig geworden. Wiederum einige Jahre später habe ich mich an dieses Lesezeichen in meinem Browser erinnert und dachte, da war doch was, wollte ich nicht mal …?
Vor einer Woche war es soweit, der Mut war endlich groß genug. Eine Probestunde Lyrical Jazz für Anfängerinnen. Der letzte Schrei in den USA, wir nennen es hier Contemporary. Das ist das, wo man bei „Let‘s dance“ manchmal weinen muss, weil es so ergreifend ist. Vertanztes pures Gefühl. Keine Regeln, keine Choreografie, nur aufs Parkett gebrachte Leidenschaft. Das ist was für mich. Also einfach raus und hin und mitmachen, mitten rein ins Neue. Das ist schließlich so eine Art Motto für mein 2019.
Die junge Frau am Empfang war sehr freundlich und schickte mich in den Keller. Dort warteten etwa fünfzehn ebenfalls junge Frauen, geschätzt im Schnitt zweiundzwanzig, auf Einlass in den Tanzsaal. Großer langer Raum, grauer Linoleumboden, Ballettstange auf der einen langen Seite, die andere lange Seite voll verspiegelt. Obwohl ich mich tanzoutfittechnisch für weites Schwarz-in-Schwarz entschieden hatte, war mein erster Gedanke: Besser wäre gewesen, das Fasten im Frühjahr durchzuhalten. Morgen gibt‘s Salat ohne alles. Und übermorgen auch.
Die sehr junge, sehr schöne und sehr unterforderte Tanzlehrerin bot uns zum Aufwärmen ein paar einfache Übungen an. Würde ich nicht seit mehr als zehn Jahren Yoga praktizieren, wäre ich schon da geflüchtet. Da wähnte ich mich noch in Sicherheit und dachte, krass, ich kann mit diesen jungen Hühnern ja einigermaßen gut mithalten. Von der Liegestütze fließen in den Seitstütz – yeah, die Bewegungslegasthenikerin ist tot, es lebe die Leib-Haftige. Mein Triumph währte nur kurz. Dem Aufwärmen folgten ein paar Tanzübungen. Mehrere einfache Schrittfolgen, eben Anfängerniveau. Kleiner Schritt, kleiner Sprung, Wechsel, großer Sprung, großer Schritt, Sprung. Oder so. Immer zu zweit und bis acht und alle anderen gucken zu. Schlagartig war ich wieder die Zwölfjährige, die rechts und links, oben und unten nicht auseinanderhalten kann und sich hoffnungslos in sich selbst verheddert. Was zum Teufel mache ich hier? Man kommt im Leben auch gut ohne Laufen und Hüpfen zurecht. Diese Zweiundzwanzigjährigen werden schon noch sehen, dass sie sich mit grazilen Drehungen nicht durchs Leben mogeln können. Meine Füße verweigerten in diesen Sekunden selbst normales Geradeausgehen. Jedes Paar musste vier-, fünfmal vor aller Augen durch den kompletten Saal hopsen. Nur splitterfasernackt zu stolpern und dabei mit dem Hintern die Spiegelwand zu zerstören wäre noch peinlicher gewesen.
Im letzten Drittel folgte eine Choreografie, die Yoga für Fortgeschrittene mit Musik und Geschwindigkeit verband. Zack, zack, rechts, links, zack, zack, oben, unten, vorne, hinten, zack, zack, drehen, hopsen, und auf acht, zack, zack … Contemporary für Anfänger hatte ich mir irgendwie anders vorgestellt. Ein paar Minuten vor dem offiziellen Ende schlich ich mich in einem unbemerkten Augenblick aus dem Saal des Grauens.
Als Zwölfjährige habe ich entschieden, mich derartigen Situationen einfach nicht mehr auszusetzen und jahrzehntelang einen großen Bogen um alles gemacht, bei dem die Fähigkeiten jedweder Körperteile unterhalb des Kopfes herausgefordert worden wären. Wozu mitmachen, wenn zugucken viel entspannter ist. Sollen diese Elfen und Eleven meinetwegen durch den Raum schweben und Pirouetten präsentieren, ich habe dafür ein schönes Hirn und schreibe schlaue Texte.
Erinnert sich noch jemand an Horst Seehofer? Er gehört zu den Menschen, bei denen Kopf, Hals und Oberkörper eine geschlossene Einheit bilden. Wenn er seine Aufmerksamkeit nach rechts oder links richtet, bewegt er seinen Kopf keinen Millimeter, sondern wuchtet den gesamten Oberkörper herum. Und dann gibt es Menschen, bei denen Hals und Kopf im Laufe der Jahre immer weiter nach vorne rutschen. So einen Geierhals macht das schönste Hirn nicht wett. Den eigenen Körper immer weiter erstarren zu lassen, ist also auf Dauer keine Lösung. Jedenfalls nicht, wenn ich vorhabe als quietschfidele Hundertfünfjährige ins Gras zu beißen. In ziemlich genau zwei Jahren ist Bergfest. Bis dahin werde ich meine innere Elfe entfesseln. Zum Spagat fehlen noch knapp zwanzig Zentimeter, das ist zu schaffen. Und auf Youtube gibt es Videos, die Tanzbewegungen gaaanz laaangsam in einzelne Schritte zerlegen. Für den Anfang: Plié!
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